"Keine Angst mehr vor Religion"

Themen des Protestantismus: Folge 1 „Bildung“ - Interview mit Schulleiterin Elisabeth Tillessen

Zum Reformationsjubiläumsjahr 2017 wollen wir hier regelmäßig Themen vorstellen, die das evangelische Leben in unserer Region prägen und ihre Wurzeln in der Reformation haben. Wir beginnen zum Start des Jubiläumsjahres mit dem Thema „Bildung“.

Martin Luther hat die Bibel ins Deutsche übersetzt, damit jeder das Wort Gottes selbst lesen und verstehen konnte. Das setzt jedoch konsequenterweise eine Grundbildung bei jedem mündigen Menschen voraus. An der Aachener Annaschule lernen rund 150 Kinder lesen und schreiben. Sie ist die einzige Grundschule im Kirchenkreis Aachen in kommunaler Trägerschaft, aber mit evangelischem Bekenntnis. Wir haben mit Schulleiterin Elisabeth Tillessen über das evangelische Profil der Schule, das Reformations-Jubiläumsjahr und ihre Arbeit in einer zunehmend säkularisierten Welt gesprochen.

An der Annaschule nimmt jedes Kind verpflichtend am evangelischen Religionsunterricht teil, obwohl nur wenige Kinder evangelisch getauft sind. Wie erleben Sie die Reaktion der Kinder auf das für sie zunächst fremde Fach?

Tillessen: Es ist in der Tat so, dass immer mehr Kinder ohne religiöse Sozialisation oder Vorbildung an unserem Religionsunterricht teilnehmen. Doch trotz ihrer vergleichsweise säkularen Lebenswelt haben die Kinder ein großes Bedürfnis, über die großen Fragen zu sprechen, zum Beispiel: Wer hat die Welt erschaffen, wie sieht Gott aus und was passiert nach dem Tod?

Die überwiegende Mehrheit der Kinder liebt das Fach Religion und sie können in den Gesprächen über Religion ganz schön philosophisch werden. Und auch wenn nicht viele Kinder evangelisch sind, so verlässt doch kein Kind die Annaschule, ohne einmal von Luther gehört zu haben. Das ist bei uns turnusmäßig im 3. oder 4. Schuljahr Thema.

Was planen Sie denn für das nächste Jahr zum Reformationsjubiläum?

Tillessen: Im März werden wir eine Projektwoche zum Reformationsjubiläum und zu Luther und seiner Zeit machen. Jedes Kind wird dabei fünf unterschiedliche Projekttage durchlaufen, die sich um verschiedene Facetten der Reformationszeit drehen, zum Beispiel Musik, Kunst, Ritter und Kinderspiele in dieser Zeit, aber eben auch die religiöse Seite des Themas. Außerdem werden wir mit der Schule auf dem Aachener Stadtkirchentag am 24. Juni vertreten sein, und wir überlegen noch, ob wir am Schulwettbewerb „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ teilnehmen können. Anlässlich des 500sten Geburtstag werden wir sicherlich einen feierlichen Reformationsgottesdienst gestalten.

Wie schätzen Sie persönlich das Verdienst Luthers in Bezug auf unser heutiges Bildungsverständnis ein?

Tillessen: Luther war kein Bildungstheoretiker. Trotzdem hat er sicherlich Spuren hinterlassen. Bildung sollte fortwährend von jeglichem Herrschaftsanspruch einer Obrigkeit befreit werden. In der Zeit Luthers herrschte eine große Angst vor dem Bösen, vor dem Teufel und dem Fegefeuer. Ich halte es für einen großen Verdienst Luthers, dass unsere Religion uns keine Angst mehr einjagt, sondern dass wir an den Schulen ein positives, gütiges Gottesbild vermitteln können. Außerdem war ihm klar: Jungen und Mädchen müssen schreiben und lesen lernen. Beide Geschlechter sollen ertüchtigt werden, ihren Beitrag zum Leben in ihrer Gesellschaft zu leisten. Sein Anspruch an Mündigkeit für alle Menschen ist ein sehr großer Schritt gewesen.

Auf der anderen Seite hat Luther auch vieles verwundet und dem christlichen Bekenntnis insgesamt auch geschadet. Ich bin dankbar, dass wir das Reformationsjubiläum jetzt zum ersten Mal mit den ökumenischen Partnern gemeinsam feiern können. Der Gedanke, dass es noch vor wenigen Jahrzehnten Mauern auf den Schulhöfen zwischen katholischen und evangelischen Kindern gab, ist aus heutiger Sicht unvorstellbar.

Auf Ihrem Schulhof treffen sich eine Vielzahl von Religionen und Kulturen. Wie gehen Sie vor dem Hintergrund der konfessionellen Ausrichtung Ihrer Schule mit dieser Herausforderung um?

Tillessen: Ich leite die Annaschule bewusst als evangelische Person. Das Feuer, mit dem ich arbeite, schöpfe ich aus meiner religiösen Haltung. Aber wir sind keine kirchliche Schule, sondern eine Schule in kommunaler Trägerschaft. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur evangelischen Profilschärfung. Und wir sind eine Innenstadtschule mit Kindern aus 40 Nationen und sehr vielfältigen religiösen Identitäten. Da wir alle Kinder einbeziehen müssen, können wir zum Beispiel nicht jeden Morgen beten oder ganz fromme Dinge tun, sondern müssen jedes Kind in seiner religiösen Identitätsfindung stärken. Und daher sind auch die verschiedenen religiösen Feste und der Besuch der diversen Gotteshäuser Teil unseres Unterrichts.

Das Wesen einer Religion lässt sich aber nur über bekennende Menschen vermitteln. Das verkörpern wir Lehrkräfte in unserem Religionsunterricht. Dabei zeigen wir unser Evangelischsein, sind aber ausdrücklich nicht missionarisch unterwegs, und das vermitteln wir auch den Eltern. Wir betrachten Religion als Teil der Allgemeinbildung. Nur wer sich ernsthaft einer religiösen Auseinandersetzung stellt, kann eine bewusste, mündige Entscheidung dazu treffen.

 

Elisabeth Tillessen, 51 Jahre alt, ist seit 2002 Leiterin der Annaschule in der Aachener Innenstadt.  Neben ihrer Tätigkeit als Schulleiterin unterrichtet sie auch an der Annaschule, zurzeit vor allem in den Fächern Religion und Englisch. Sie ist Mitglied des synodalen Schulausschusses und der Kreissynode des Kirchenkreises Aachen.

(Interview und Fotos: C. Braun)