„Die heutigen Inhaftierten sind unsere Nachbarn von morgen“

Wie ehrenamtliches Engagement die Gefängnismauern „etwas durchlässiger“ macht – Kirchengemeinden und Einzelne können JVA Aachen, Gefängnisseelsorge und Straffällige unterstützen

Drei bequeme blaue Sofas, Blumen auf einem Tischchen und an der Tür ein Schild: „VIP-Lounge“. Der Raum, der zum Gespräch in angenehmer Atmosphäre einlädt, könnte so in vielen kirchlichen oder sozialen Einrichtungen vorzufinden sein. Doch die „VIPs“, die hier einen Termin haben, um mit einer Seelsorgerin oder einem Seelsorger zu sprechen, sind tatsächlich etwas Besonderes und die Beratung in diesem Raum steht nicht jedem offen. Es sind Gefangene der Justizvollzugsanstalt (JVA) Aachen. 

Das Ziel: Ein Leben ohne Straftaten

Für fast 800 männliche Straf- und Untersuchungsgefangene bietet die JVA Aachen Platz. Ziel des Vollzugs ist es, die Strafgefangenen zu einem Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu befähigen. Oder, wie es Gefängnisseelsorger Pfarrer Horst Grothe ausdrückt: „Die Inhaftierten von heute sind unsere Nachbarn von morgen.“ In der JVA Aachen gibt es deshalb nicht nur eine Reihe von therapeutischen und Freizeit-Angeboten, sondern auch ein Seelsorge-Team mit zwei Stellen von evangelischer und zweieinviertel Stellen von katholischer Seite. Die Seelsorgenden arbeiten eng mit den Beschäftigten der JVA zusammen, darunter mit Gisela Egerding. Als Sozialpädagogin ist sie unter anderem zuständig für Ehrenamtsbegleitung im Gefängnis. 

Brücken schlagen zwischem dem Gefängnis und der Welt draußen

Während der Pandemie war der Austausch zwischen der Außenwelt und dem Inneren der JVA kaum mehr möglich und so kamen auch viele ehrenamtliche Angebote dort zum Erliegen. Doch nun, so ist der Wunsch des Teams, soll wieder stärker eine Brücke zwischen dem Gefängnis und Kirchengemeinden beziehungsweise engagierten Personen geschlagen werden. „Es gibt mehrere Arten von Unterstützung, auf die wir aufmerksam machen möchten“, sagt Gefängnis-Seelsorgerin und Pfarrerin Sabine Reinhold. „Erstens die Gruppen- oder Einzel-Angebote, die Ehrenamtliche im Gefängnis machen können, zweitens die Unterstützung von Menschen, die bald entlassen werden, durch konkrete Sachspenden, drittens ein Engagement in der Straffälligenhilfe nach der Entlassung und viertens die Arbeit an diesem Thema in den Kirchengemeinden. Alle diese Möglichkeiten möchten wir gerne fördern, und ganz besonders das Engagement von Ehrenamtlichen.“

Viele neue Gruppen-Angebote wären möglich

Für die Inhaftierten gibt es in der JVA Aachen bereits Gruppenangebote wie „Deutsch im Alltag“, Yoga, einen Lesezirkel, eine Schachgruppe, einen Bibelkreis und die Gesprächsgruppe „Soers“, die sich zu aktuellen Themen austauscht. Jedes Wochenende werden außerdem Gottesdienste gefeiert – katholisch, evangelisch und ökumenisch. In Gisela Egerdings Kartei von Ehrenamtlichen, die bereit sind regelmäßig für Einzelgespräche mit Gefangenen in die JVA zu kommen, finden sich derzeit rund 40 bis 50 Aktive. Als ganz besonders wünschenswert sehen die Zuständigen aber weitere Angebote für Gesprächsgruppen, zum Beispiel Biographie-Arbeit, eine niederschwellige Spiele-Gruppe, eine Theater-Gruppe, eine Musik-Gruppe und einen Chor sowie eine Gruppe für Entspannungsübungen oder eine Schreibwerkstatt. Welche Angebote noch vorstellbar sind, hängt ganz von den Interessen der Ehrenamtlichen ab und von der Umsetzbarkeit innerhalb der Möglichkeiten einer JVA. 

Einsamkeit durchbrechen und Wertschätzung für die Menschen zeigen

Das sei ein Unterschied zum Angebot von Gruppen in einer Kirchengemeinde, sagt Sabine Reinhold: „Die Ehrenamtlichen können frei anbieten, was sie möchten, und auch ganz in dem Turnus, der ihnen passt, zum Beispiel wöchentlich, zweiwöchentlich, oder monatlich.“ Wer ein Freizeitangebot in der JVA machen möchte, muss drei Voraussetzungen erfüllen: ein sauberes Führungszeugnis, die Absolvierung einer Schulung für ehrenamtliche Arbeit in der Straffälligenhilfe und die Bereitschaft, das Angebot mit einer gewissen Kontinuität durchzuführen. 

Wie wertvoll derartige Begegnungen und Beschäftigungen für die Inhaftierten seien, betonen alle im Seelsorge-Team. „Dass Menschen ihnen ihre Zeit schenken und mit ihnen Zeit verbringen wollen, ist für die Gefangenen etwas ganz Besonderes“, sagt Sabine Reinhold. Und Horst Grothe ergänzt: „Dadurch kann die Einsamkeit der Gefangenen durchbrochen werden, Vorurteile werden abgebaut und die Gefangenen erfahren eine Wertschätzung als Mensch, jenseits ihres Delikts.“

Verhalten in der JVA ist für Außenstehende ungewohnt

Doch die Delikte sind es natürlich, die die Gefangenen in die JVA geführt haben. So ist es eine Voraussetzung für ihre Teilnahme an Gruppen-Angeboten mit Ehrenamtlichen, dass alle vorher eine Genehmigung der JVA durchlaufen, ob sie dafür geeignet sind. Die Ehrenamtlichen können dann in ihren Gruppen grundsätzlich auf alle Arten von Straftätern treffen. „Wer gruppenfähig ist, kann auch kommen“, bestätigt Gisela Egerding. „Melden die Ehrenamtlichen sich allerdings für Einzelgespräche, können sie bei mir angegeben, was sie nicht möchten, zum Beispiel wenn eine Frau als Ehrenamtliche auf keinen Fall Besuche bei einem Sexualstraftäter machen möchte.“ Über die Abläufe innerhalb der JVA, den Haftalltag und Themen wie „Nähe und Distanz“ oder den Umgang mit unangemessenen Forderungen von Häftlingen an ihre Besucher werden die Ehrenamtlichen in einem zwölf Abende umfassenden Kurs des Hilfswerks „ABK Neustart“ vorbereitet. Wer ganz neu eine Gruppe anbietet, wird damit nicht ins kalte Wasser geworfen, sondern innerhalb der JVA ein halbes Jahr lang begleitet. Denn so sagt Sabine Reinhold: „Man kommt hier in eine ganz neue Situation. Die JVA ist ein Raum, in dem man selbständig nicht das Kleinste kann, so dass man überhaupt nicht weiß, wie man sich bewegen soll. Nicht mal selbständig aufs Klo gehen kann man ja zwischendurch.“

Organisten, Bands und Bläserchor für mehr Musik im Haftalltag

Neben dem Engagement in Gruppen oder Gesprächen liegt es Pfarrer Horst Grothe besonders am Herzen, wieder mehr Musik in die JVA zu bringen. „Wir suchen seit langer Zeit einen Organisten, der sonntags im Gottesdienst spielt“, sagt er. Dies wäre keine ehrenamtliche Tätigkeit, sondern gegen Honorar. Ehrenamtlich will er aber ermöglichen, dass wieder mehr Bands in der JVA ein Konzert geben dürfen oder ein Bläserchor im Advent spielt. „Das würde hier wieder mehr Farbe reinbringen und allen guttun“, meint Grothe. 

Schritt zurück in die Gesellschaft soll gelingen

Wer nicht in die JVA kommen möchte und wenig Zeit hat, aber trotzdem Straffällige unterstützen will, kann auch mit konkreten Sachspenden helfen. Denn, so weiß Sabine Reinhold, oft hätten die Männer bei der Entlassung nicht einmal das Nötigste. Sie bäten dann um eine Winterjacke, ein paar Schuhe oder andere, passende Kleidung. „Wenn ich dann Menschen anrufen könnte und jemand etwas beisteuern würde, das er spenden möchte, das wäre toll“, sagt die Pfarrerin. Mit ihrer Arbeit helfen die Seelsorgenden so nicht nur den Straffälligen selbst, sondern allen Bürgerinnen und Bürgern: „Unser Anliegen ist es, dass der Schritt aus dem Gefängnis zurück in die Gesellschaft gelingt.“

(Text: Kirchenkreis Aachen / C. Braun)

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