Streicheleinheiten für die Seele

Hochkarätige Chormusik bei der Nacht der offenen Kirchen in Annakirche und Citykirche – Eindringliche Predigt von Superintendent Bruckhoff zum Abschluss des Abends

Armin Drack, Pfarrer an der Annakirche und Vorsitzender des Gesamtpresbyteriums der Aachener Kirchengemeinde, blickt zufrieden auf sein Weinglas: „Kultur streichelt die Seele – und es ist in dieser Zeit umso wichtiger, dass die Nacht der offenen Kirchen wieder stattfindet.“ Es ist viertel nach neun an diesem ungewöhnlich milden Oktoberabend, wir stehen mit anderen Gästen im Garten der Annakirche. Drinnen ist gerade der erste Teil des dortigen Abendprogramms zu Ende gegangen. Der Chor Cantabile aus Eupen unter der Leitung von Gerhard Sporken hatte eine Stunde lang mit 18 erstklassigen Sängerinnen und Sängern das Beste aus der Akustik der Annakirche herausgeholt. Beschwingend leicht und scheinbar mühelos hatten perlende Melodien in flämischer, deutscher, englischer und französischer Sprache dem Ohr geschmeichelt und die Gedanken beflügelt.

Der zweite Programmpunkt des Abends muss leider entfallen, die Solistin ist kurzfristig erkrankt. Stattdessen lädt die Gemeinde zu Begegnung bei Wasser, Wein und Knabberzeug ein. Oder dazu, den farbig inszenierten Innenraum der Annakirche in Stille auf sich wirken zu lassen – was der eine oder die andere Besucher*in durchaus tut.

Auch in kleinerer Besetzung ein Hörgenuss

Eine Stunde zuvor in der ökumenischen Citykirche beginnt das Konzert des Aachener Chores Carmina Mundi ebenfalls mit unerwünscht vertrauten Sätzen. Ein relevanter Teil des Chores ist erkrankt, auch Chorleiter Harald Nickoll muss an diesem Abend zuhause bleiben. Seine Vertretung bittet um Verständnis, dass deshalb das Repertoire etwas umgestellt werden muss. Vor voll besetztem Raum entführt das verbleibende Ensemble trotzdem souverän und fein moduliert, wenn nicht in die ganze Welt, so doch in die Werke europäischer Komponisten von Norwegen bis Spanien, von England bis Liechtenstein. Vom getragenen Beginn mit Totenrequiem über das bekannte Abendlied bis zu beschwingteren Melodien zum Ende des knapp einstündigen Konzerts erhält das Publikum eine Kostprobe der Breite und Varianz der Sängerinnen und Sänger.

Ökumene - ein selbstverständliches Wunder

Zum Abschluss des Abends besuchen wir mit rund 50 anderen das ökumenische Nachtgebet des Arbeitskreises Christlicher Kirchen (ACK) in der Kirche St. Michael/Agios Dimitrios. Der griechisch-orthodoxe Hausherr, Bischof Evmenios von Lefka, ruft nochmal in Erinnerung, dass eine solche Veranstaltung ein Wunder ist, das noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar gewesen wäre. Und doch so selbstverständlich sein sollte, weil alle christlichen Kirchen an denselben Gott und dieselbe Verheißung glauben. Gemeinsam mit Pfarrer Andreas Mauritz, dem Vorsitzenden der ACK, Pastoralreferentin Katrin Hohmann, Ursula Becker und Superintendent Hans-Peter Bruckhoff gestaltet er den Gottesdienst, liest die Bibelstelle zum Predigttext auf Griechisch vor: Hosea 10, 12. „Säet Gerechtigkeit und erntet nach dem Maße der Liebe!“ 

Gemeinschaftserlebnis

Superintendent Bruckhoff betrachtet in seiner anschließenden Predigt ausführlich den biblischen Begriff Gerechtigkeit. „Dabei geht es nicht um die eigene Gerechtigkeit des Nicht-zu-kurz-Kommens, sondern um die Gerechtigkeit der Anderen, um Gemeinschaftstreue statt Egoismus.“

Mit dem Bild des Säens wiederum sei der Mut der kleinen Schritte gemeint. Vermeintlich unscheinbare Handlungen haben beeindruckende Ergebnisse zur Folge. Bruckhoff ordnet den Bibeltext historisch ein, dass Hosea radikale Umkehr in einer Zeit des Umbruchs predigte, die der heutigen fast vergleichbar ist. Für alles „Weiter so“ war es damals zu spät. Und damals wie heute schafften Waffen keinen Frieden. Der Superintendent mahnt: „Jetzt ist nicht die Zeit, sich zurückzuziehen oder depressiv zu werden. Gerade jetzt ist die Zeit, mutig auch kleine Schritte zu gehen. Und sich auch noch zum 1000. Mal zu bemühen, Misstrauen und Egoismus durch Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit zu ersetzen.“

Die Predigt wirkt noch nach bei der Besucherin, der Begriff der „Gemeinschaftstreue“ verlangt nach gründlicherer Betrachtung. Doch auf dem Weg nach Hause durch die noch gut gefüllte Aachener Innenstadt fällt eine andere Gemeinschaft ins Auge: Vor vielen Kneipen und Restaurants sitzen Menschen auch um 11 Uhr abends noch draußen, friedliches Stimmengewirr füllt die Gassen. Vielleicht hat auch ihnen das reiche Kulturangebot in den vielen geöffneten Kirchen die Seele gestreichelt.

Text: Juliane Siekmann