„Wir opfern Leben auf dem Altar der Ökonomie“

Viele Besucher und hohe Spendensumme zum zweiten Jahrestag des Reaktorunglücks von Fukushima – Japaner befürworten weiterhin mehrheitlich die Atomkraft – Abwechslungsreiches Rahmenprogramm zeichnet differenziertes Bild der heutigen Lage im Katastrophengebiet

Zum zweiten Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Fukushima hat die Evangelische Stadtakademie Aachen am Sonntag gemeinsam mit einem deutsch-japanischen Freundeskreis aus der Region Aachen über die aktuelle Lage im Katastrophengebiet informiert und um Spenden für die Kinder aus dem strahlenbelasteten Bezirk Watari gebeten. Mehr als 150 Interessierte, darunter viele Familien mit kleinen Kindern, besuchten das abwechslungsreiche Programm des Nachmittags und unterstützten das „Poka-Poka“-Projekt für eine „Auszeit von der Strahlung“ großzügig mit einer Summe von insgesamt fast 1500 Euro.

Ärzte befürchten Schilddrüsenkrebs und Leukämie

„An den Folgen der Tschernobyl-Strahlung sind nach sorgfältigen Berechnungen europaweit 1, 6 Millionen Menschen gestorben“, zitierte Jürgen Groneberg, Leiter der Evangelischen Stadtakademie Aachen (ESA), zu Beginn aus einer aktuellen Anzeige der Vereinigung IPPNW, Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges. „Schilddrüsenzysten und -knoten sind bei über 35 Prozent der Kinder in der Präfektur Fukushima nachgewiesen, normalerweise aber in diesem Lebensalter sehr selten. Schilddrüsenkrebs ist ab 2014/15 zu befürchten, Leukämie etwas später. Im Dezember 2011, neun Monate nach der Katastrophe, war in Japan die Säuglingssterblichkeit erhöht, die Geburtenzahlen gingen deutlich zurück.“

Bruckhoff: "Atomkraft unverantwortlich"

Auch Hans-Peter Bruckhoff, Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Aachen, sprach sich in seinem Grußwort deutlich gegen die weitere Nutzung von Atomenergie aus. „Mir gehen die Bilder der Menschen, die in Fukushima den Strahlen ausgesetzt sind, nicht aus dem Kopf“, sagte er. Auch ein durchorganisierter Industriestaat wie Japan könne nach dem Unglück nicht „vertuschen oder darüber hinwegtäuschen, wie unverantwortlich Atomkraft immer schon war und noch ist. Wenn wir weiter Atomkraftwerke betreiben, heißt das, wir opfern Leben auf dem Altar der Ökonomie.“

Bürgermeister Jansen spricht sich gegen Atomenergie aus

Für die Stadt Aachen wandte sich Bürgermeister Björn Jansen (SPD) an die Zuhörer im Haus der Evangelischen Kirche und lobte das Engagement der Evangelischen Stadtakademie: „Sie setzen mit dieser Veranstaltung ein wichtiges Zeichen, damit wir uns endlich von dieser schrecklichen Technologie trennen“, sagte er. Jansen schilderte die Erfahrungen eines engen Freundes, der sich zum Zeitpunkt des Unglücks auf einer Reise in der Nähe von Fukushima aufgehalten hatte. „Der Tsunami forderte in Japan mehr als 15.000 Todesopfer“, sagte Jansen. „Aber die Reaktorkatastrophe hat der Mensch herbeigeführt. Wir spielen mit einer Technologie, die wir nicht im Griff haben, eingeschlossen das Problem der Endlagerung.“ Bürgermeister Jansen wies darauf hin, dass auch die Aachener Bürger in direkter Nachbarschaft eines sehr alten belgischen Atomkraftwerkes leben und unmittelbar von einem Atomunfall dort betroffen wären.

Referent Dr. Yoshida legt öffentliche Meinung in Japan dar

Eine andere Meinung vertrat hingegen der Publizist Dr. Shingo Andreas Yoshida, ehemaliger Journalist der Deutschen Welle, der über Politik und öffentliche Meinung in Japan nach dem Reaktorunglück sprach. Er legte dar, dass die Mehrheit der Japaner einen "sofortigen totalen Atomausstieg" nicht für eine "optimale Lösung" hielte. Laut Yoshida befürworteten 80 Prozent der japanischen Bevölkerung auch heute noch die Nutzung von Atomenergie, obwohl sie wüssten, wie gefährlich diese sein kann. Argumente in Japan seien, die Atomkraftwerke müssten besser vor Naturkatastrophen geschützt werden, so dass es nicht zu Unfällen kommen könne, der Strompreis würde für Industrie und Verbraucher ohne Atomenergie zu stark steigen, und alternative, erneuerbare Energien seien in Japan anders als in Deutschland schwieriger nutzbar. Außerdem sähen viele japanische Ärzte in den Schilddrüsenveränderungen bei Kindern keine daraus entstehende Krebsgefahr.

Unverstrahlte Lebensmittel im Reisegepäck

Ein ganz anderes Bild zeichneten wiederum Harald Thyssen und Nobuko Haga-Thyssen in ihrem persönlichen Reisebericht in die Unglücksregion Fukushima. Nobuko Haga-Thyssen stammt selbst aus Fukushima, ihre Familie und viele Freunde leben weiterhin dort. Beide berichteten, abwechselnd auf Deutsch und Japanisch, von vielen Eindrücken aus einer Gegend, in der die Menschen das Unglück verdrängen, obwohl es überall unübersehbar ist. Strahlenanzeigetafeln bilden beispielsweise am Bahnhof die aktuelle Belastung ab, Kinder gehen nur mit einem kleinen Strahlenmessgerät an einem Band um den Hals ins Freie. Dort dürfen sie sich aufgrund der Gefahr nur noch maximal eine halbe Stunde täglich aufhalten. Trotz der Verstrahlung verzehren die meisten Einwohner weiterhin Obst und Gemüse aus der Region. Die Familie Haga-Thyssen selbst hatte für sich und ihre kleine Tochter viele Lebensmittel mit auf die Reise genommen, um sicher sein zu können, dass diese unbelastet sind. "Alle Atomkraftwerke abschalten!", richtete Nobuko Haga-Thyssen zum Schluss des Vortrags einen sehr emotionalen Appell an das Publikum. Anschließend stellten beide das japanische Kinderhilfsprojekt "Poka-Poka" vor, dem alle Spenden des Nachmittags zugutekommen.

Japanische Musik und bissiges Kabarett

Untermalt wurde die Veranstaltung von der Musik japanischer Künstlerinnen aus der Region Aachen: Aki Sakamoto (Violine), Mitsuyo Yamashita (Gitarre) und Hiroe Shibata (Klavier). Gemeinsam mit ihnen und einer japanischen U16-Fußballmannschaft aus der Dürener Fußballschule „Soccer+Life“  sangen alle Mitglieder des deutsch-japanischen Freundeskreises auch ein japanisches Volkslied. Zum Abschluss präsentierte dann das Aachener Kabarett-Ensemble „Muita Merda“ einen Ausschnitt aus seinem bissigen Programm und nahm dabei nicht nur Atomkonzerne und die Waffenindustrie, sondern auch Investmentbanker und kritiklosen Konsumrausch auf die satirische Schippe.

Wenn Sie auch für das POKA-POKA-Projekt für die Kinder in Fukushima spenden möchten, können Sie Ihre Spende noch bis zum 31. März 2013 überweisen!

Die Kontodaten:

Kontonummer: 216, Sparkasse Aachen, BLZ: 390 500 00

Verwendungszweck: Fukushima

Alle eingehenden Spenden mit diesem Verwendungszweck sowie alle bei der Veranstaltung eingegangenen Bar-Spenden werden von der Finanzabteilung des Kirchenkreises gesammelt an das POKA-POKA-Projekt in Japan überwiesen, damit nur einmal die Auslands-Überweisungsgebühren anfallen!

Wir bitten Sie um Verständnis dafür, dass die ESA bzw. der Ev. Kirchenkreis Aachen für Spenden zu diesem ausländischen Projekt keine Spendenquittungen ausstellen kann.