Rupert Neudeck lobt Arbeit der Kirchen und fordert Ausbildungsprojekte für Afrika

"Wir dürfen nicht zusehen beim Sterben im Mittelmeer!" - Große Rolle des christlichen Glaubens für eigenes humanitäres Engagement

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter hat Rupert Neudeck für den Klappentext seines neuen Buches "Radikal leben" so umgeschrieben: "Der Priester und der Levit, die vorbeigehen ohne dem Verletzten zu helfen, wären heute ein UNO-Beamter und ein Blauhelmsoldat", sagt Neudeck. "Ihr Kommentar: Nicht mein Mandat!" Der Theologe und Journalist verhielt sich selbst bekannterweise anders und rettete tausenden vietnamesischen Flüchtlingen im Südchinesischen Meer mit dem Schiff "Cap Anamur" das Leben. Heute organisiert er humanitäre Projekte als Vorsitzender des Friedenskorps "Grünhelme e.V.", unter anderem im Nordirak, in Syrien und in Ruanda. "Der christliche Glaube hat für meine Arbeit eine gar nicht zu beschreibende große Rolle gespielt", sagt der 75-Jährige.

Jahrzehntelange eigene Erfahrungen in den Krisengebieten der Welt

Am Sonntag sprach Rupert Neudeck im Haus der Evangelischen Kirche in Aachen auf Einladung der Evangelischen Stadtakademie (ESA), der Albert-Camus-Gesellschaft und des philosophischen Instituts Logoi über das Thema "Damoklesschwert über dem Mittelmeer - Über die Chancen eines offenen Europas". In einer beeindruckenden Mischung als Lebhaftigkeit und Tatendrang, Humor, großer Authentizität durch eigene jahrzehntelange Erfahrungen in den Krisengebieten der Welt und auch Selbstkritik vertrat Neudeck dabei im Gespräch mit dem Schriftsteller Sebastian Ybbs seine Standpunkte.

"Der wichtigste Wert Europas ist es, beim Sterben von Menschen nicht zuzusehen", sagte Neudeck in Bezug auf die Flüchtlinge, die im Mittelmeer und an den europäischen Grenzen umkommen. "Die Werte Europas sind auf Gedeih und Verderb damit verbunden, dass nicht einfach gemordet und gestorben werden darf!" Von den "freien Gesellschaften Europas" forderte er deshalb, die Politik auf Trab zu bringen, um eine Rettung und Aufnahme der Flüchtlinge zu erreichen und eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik, die nicht Abschottung, sondern Aufnahme zum Ziel habe. "Die Rettungsaktion 'Mare Nostrum' der italienischen Marine war der stärkste Ausdruck der biblischen Verheißung 'Schwerter zu Pflugscharen'", sagte Neudeck. Er habe davon geträumt, dass nach den italienischen Schiffen Schiffe der Bundesmarine die Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer übernähmen und danach jedes europäische Land im Wechsel für einige Monate. "Wenn wir das machen würden, dann hätten wir Europa wirklich geschaffen."

Deutsche Gesellschaft in der Mehrheit hilfsbereit und offene für Flüchtlinge

Wichtig sei es ihm jedoch, so Neudeck, auch Dinge in der Welt hervorzuheben, die gut laufen und die gelingen. "Die Kirchen in Deutschland machen jetzt eine sehr gute Flüchtlingsarbeit in Deutschland", sagte er. "Viele Flüchtlinge werden in Gemeinden aufgenommen und dort auch durch Mitarbeiter und Ehrenamtliche betreut, und diese private und dezentrale Unterbringung ist für die Menschen ganz wichtig." Neudeck sagte, bei seinen Terminen in ganz Deutschland erlebe er die Gesellschaft in der Mehrheit als sehr hilfsbereit und offen für Flüchtlinge. "Ich erlebe den Respekt vor anderen Menschen, großes Interesse an ihren Kulturen und Respekt vor der Lebensleistung derer, die unter unsäglichen Umständen die Flucht überlebt haben", sagte Neudeck. Er verwies darauf, dass im Irak derzeit 5,3 Millionen Kurden 2 Millionen Flüchtlinge aus Syrien bei sich aufnähmen und in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg 13 Millionen Menschen aus Ostdeutschland und Osteuropa aufgenommen worden seien. So müsse es auch heute möglich sein, mehr Flüchtlinge in Deutschland unterzubringen als es derzeit geschieht.

Modell-Ausbildungsschulen in Ruanda und Mauretanien

Dabei sieht Rupert Neudeck es jedoch nicht als langfristige Lösung an, alle Flüchtlinge aus den afrikanischen Ländern in Europa unterzubringen, sondern er fordert vehement Ausbildungsprojekte für junge Menschen in Afrika selbst. "Das Ziel der jungen Menschen aus Afrika ist es doch überhaupt nicht an sich, ihre Heimat zu verlassen und nach Europa zu gehen, sondern sie wollen eine Berufsausbildung und damit eine Möglichkeit, für sich und ihre Familie zu sorgen", ist Neudeck überzeugt. So betreibt die Hilfsorganisation "Grünhelme e.V." auch ein Ausbildungsprojekt in Ruanda und ist dabei, ein weiteres in Mauretanien aufzubauen. Als einen großen Zweig der wirtschaftlichen Entwicklung sieht Neudeck dabei die Solarenergie, die in den afrikanischen Ländern eine "unglaubliche Wirkungsmacht" habe. Beginnen müsse die Ausbildungsinitiative in den Ländern südlich des Mittelmeers, darunter Marokko.

"Die Dinge radikaler angehen"

Die Zuhörer im Saal forderte Neudeck auf, "die Dinge radikaler anzugehen", so wie Kinder noch denken. Er zitierte dazu den "schönen Satz aus dem Evangelium, dass wir so werden sollen wie die Kinder" und berichtete von seiner Enkeltochter Nola, die als Sechsjährige, nach drei Jahren Aufenthalt in Simbabwe, ihrer Oma einen Brief an Bundeskanzlerin Merkel diktierte, in dem sie sich wünscht, mit Merkel zu besprechen, dass Präsident Mugabe "wegkommt ... oder dass der so wird wie du". Einen anderen im Buch "Radikal leben" abgedruckten Brief hatte seine Enkelin Milena mit elf Jahren an den damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher geschrieben und gefordert, dass dem Komitee Cap Anamur der Einsatz von Minenräumpanzern in Somalia ermöglicht werde. An diesem "Ausbruch der klaren Vernunft, den man als Kind noch hat" müssten auch wir Erwachsene uns heute, laut Neudeck, mehr orientieren, um das Richtige zu tun.

(Text und Bilder: Ev. Kirchenkreis Aachen / Braun)