Gemeinsames Singen stärkt die Gemeinschaft der Gläubigen

Themen des Protestantismus: Folge 5 „Kirchenmusik“ - Interview mit Kreiskantor Elmar Sauer

Zum Reformationsjubiläumsjahr 2017 stellen wir an dieser Stelle regelmäßig Themen vor, die das evangelische Leben in unserer Region prägen. Für die fünfte und letzte Folge mit dem Thema „Kirchenmusik“ haben wir mit Kreiskantor Elmar Sauer gesprochen.

Unter den Reformatoren maß vor allem Martin Luther dem volkssprachlichen Kirchenlied eine hohe Bedeutung zu. Im Gesang ermöglichte er der Gemeinde eine aktive Beteiligung am Gottesdienst. Seitdem spielen Kirchenlieder und Kirchenmusik eine wichtige Rolle in der evangelischen Kirche, sowohl im Gottesdienst als auch im Gemeindeleben. In den vergangenen Jahrzehnten trug die Kirchenmusik auch zur Annäherung der katholischen und der evangelischen Kirchen einen großen Teil bei.

Herr Sauer, welches ist Ihr persönliches Lieblings-Kirchenlied und warum?

Sauer: Ich habe drei Lieblingslieder: „Die Nacht ist vorgedrungen“ - den Text schrieb Jochen Klepper 1938, die Melodie von Johannes Petzold kam 1939 hinzu. Es ist ein ernstes, Hoffnung gebendes und tröstendes Lied. Klepper war mit einer Jüdin verheiratet, hatte zwei jüdische Stieftöchter und war deshalb dem Nationalsozialismus ausgeliefert.
„Sonne der Gerechtigkeit“- der Text stammt von mehreren Verfassern aus dem 18. bis 20. Jahrhundert. Die Melodie aus dem 15. Jahrhundert von den Böhmischen Brüdern, deren Reformator Jan Hus ein Vorläufer Luthers war und als Ketzer verbrannt wurde. Es hat eine ökumenische Fassung und passt mit seiner kämpferischen Melodie und dem entsprechenden Text in jede, auch in unsere Zeit, weil es die Christen auffordert, aus dem Schlaf der Sicherheit aufzuwachen!
„Wäre Gesanges voll unser Mund“ - dieses Lied steht nicht in unserem evangelischen Gesangbuch, sondern in „Lieder zwischen Himmel und Erde“. Eugen Eckert hat einen hebräischen Gebetshymnus ins Deutsche übertragen. Auslöser für die Entstehung des Liedes waren Ausschachtungsarbeiten in Frankfurt, bei denen Überreste des Jüdischen Ghettos gefunden wurden. Sprache und Musik gehen mir zu Herzen.
Alle drei Lieder sind auch im neuen, katholischen „Gotteslob“ enthalten.

Vor Luther gab es kaum volkssprachliche Lieder im Gottesdienst. Er setzte die Wirkung von Liedern und Musik im Gottesdienst gezielt ein. Was wollte er?

Sauer: Luther war der Überzeugung, dass durch Singen Glaubenstexte gefestigt, zum geistigen Eigentum werden. Außerdem wurde durch gemeinsames Singen die neue Gemeinschaft der Gläubigen gestärkt, und es galt ihm als gutes Mittel gegen alle negativen Gefühle, die von außen auf die Gläubigen einstürmten. Luther ersetzte die lateinische Messe zum größten Teil durch deutschsprachige Gesänge, die er zum Teil selbst dichtete und komponierte. Die neue Glaubensrichtung sollte nicht nur durch die ins Deutsche übersetzte Bibel und deutsche Predigt, sondern eben auch durch Gesang verkündigt werden. Als ehemaliger Augustinermönch beherzigte er Augustinus' Ausspruch „Wer singt, betet doppelt!“ Singen im Gottesdienst war - im Gegensatz zu Zwinglis und Calvins Auffassung, ein Markenzeichen lutherischer Gottesdienste.

Wie haben sich Luthers Überzeugungen bezüglich der Kirchenmusik in der von ihm befürworteten Kirchen-Architektur niedergeschlagen?

Sauer: Die Reformation veränderte natürlich die Sakralbauten, allerdings je nach den Bedingungen, die die Protestanten vorfanden. Ich stamme aus dem evanglisch-lutherischen Norden, wo die reichbebilderten Altäre, der Taufstein und die Kanzel aus katholischer Zeit beibehalten wurden. Sie erzählen biblische Geschichten in Bildern. Die Orgel jedoch ist das Glanzstück. Allerdings gibt es in den reformierten Kirchen Ostfrieslands wegen des strengen Bilderverbots diesen Schmuck nicht oder kaum. Dort wo lutherische Kirchen neu gebaut wurden, zum Beispiel in Schlosskirchen Sachsens, konnten Luthers Ideen konkret verwirklicht werden: im Chorraum der Altar, darüber die Kanzel und ganz oben als „Krone“ die Orgel.

Was waren die wichtigsten Entwicklungsschritte der evangelischen Kirchenmusik nach Luther bis heute?

Sauer: Luther nachfolgende Komponisten wie Bach, Schütz und Buxtehude schufen große Werke, Kantaten, Motetten, Choräle, die auf Luthers Bibelübersetzung basierten. Buxtehude begründete durch seine Abendmusiken in Lübeck die Tradition des außergottesdienstlichen Lob Gottes. Es entstand parallel zur Glaubensbewegung eine Singbewegung, die durch die Möglichkeiten des Buchdrucks schnelle Ausbreitung fand. Es entstand eine breit gefächerte Chortradition. Die inhaltliche Ausgestaltung orientierte sich natürlich über die Jahrhunderte hin nach den Gegebenheiten der Epochen, die ich jetzt nur stichwortartig nennen möchte: Gegenreformation/Konfessionalismus, Barock, Pietismus, Aufklärung, Erweckungsbewegung. Bis in das vergangene Jahrhundert erfolgte eine immense Ausweitung hinsichtlich verschiedener Musikstile. Man kann sagen, mit der Reformation begann eine geistliche Musikkultur, die sich in Europa ausbreitete. Sie fand ihre biblische Begründung in Epheser 5, 19: "Singt und jubelt!"

Welche Rolle spielt die evangelische Kirchenmusik heute, im Gottesdienst und im Gemeindeleben?

Sauer: Heute nimmt die geistliche Musik in Gottesdiensten breiten Raum in verschiedensten Ausprägungen ein: Es treten Chöre, Solisten, Gruppen ohne und mit Instrumenten aller Art auf. Musikstile wie Sacro Pop, Spirituals, Gospel, Rock, Kirchentagsliteratur, Neues Geistliches Lied (NGL) sind anzutreffen. Im konzertanten Bereich ist großes Interesse an Oratorien (deren textliche Bedeutung auch bedacht wird, zum Beispiel der Antijudaismus in Bachs Passionen, auf Luther zurückgehend!), Orgel- und Posaunen-Konzerten, auch interessante Cross-Over-Experimente (Brahms – Rihm). Chöre und Kantoreien haben längst die Ökumene an der Basis verwirklicht, leiden allerdings in der Regel an Überalterung und entsprechen damit in der Regel der Altersstruktur der Gottesdienstbesucher. Jugendliche und Angehörige der mittleren Generation engagieren sich noch für kurzzeitige Projekte im NGL-Bereich. Große Konzerte haben trotz Eintrittsgeldes unglaublichen Zulauf!

Was sind Ihre Aufgaben als Kreiskantor?

Sauer: Ich berate den Kreissynodalvorstand, die Gemeinden sowie haupt- und nebenamtliche Musiker zu allen Fragen der Kirchenmusik. Als Kreiskantor bin ich Bindeglied zwischen landeskirchlicher Ebene und Gemeindeebene in beide Richtungen. Ich leite die C-Kurse zur Ausbildung von nebenamtlichen Kirchenmusikern für die Kirchenkreise Aachen und Jülich und organisiere die Prüfungen, die ich dann auch selbst durchführe.

Wohin wird sich die Kirchenmusik Ihrer Einschätzung nach in Zukunft entwickeln?

Sauer: Ich wünsche mir, dass sich das Musikspektrum in unseren Gemeinden weiter öffnet. Luther benutze den Trick der Kontrafaktur, bei dem einem angesagten, weltlichen Lied ein geistlicher Text unterlegt wird. Smartphone und WhatsApp gab's ja noch nicht, so bediente er sich des Singens als Kommunikationsmittel, um seine Botschaft unters Volk zu bringen. Das hat gut funktioniert. Vielleicht sollten wir „bei Kirchens“ über soziale Medien und zeitgenössische Kommunikationsmittel nachdenken.

Gibt es einen Mangel an Kirchenmusikern und / oder Organisten?

Sauer: Momentan sind alle Stellen besetzt. Eng wird es immer wieder in den Ferien oder an hohen Feiertagen. Einen Unterschied in der Versorgung mit Kirchenmusikern macht es, ob es sich um eine Stadt- oder eher ländliche Region handelt. An den Musikhochschulen ist aktuell eine steigende Tendenz bei den Studierenden der Kirchenmusik zu verzeichnen.

Welche Rolle spielt die Orgel als Instrument heute in der Kirchenmusik?

Sauer: Konzertant eine wichtige, wenn ich an die gerade eingeweihte Orgel in der Elbphilharmonie in Hamburg denke. Im Gottesdienst sehe ich die Orgel nicht mehr als DIE, sondern als eine Möglichkeit der musikalischen Ausgestaltung. Beim Singen trägt mich nichts besser, als der durch Luft natürlich erzeugte Klang von Orgelpfeifen.

Gibt es heute noch einen Unterschied zwischen evangelischer und katholischer Kirchenmusik?

Sauer: Noten und Instrumente sind die gleichen! Unterschiede sehe ich in der Liturgie. Ansonsten gibt es regen Austausch zwischen Kirchenmusikern, Orgelvertretern. Chorsänger beleben die Ökumene. Das neue Gesangbuch „Gotteslob“ enthält viele evangelische Lieder.

In der evangelischen Kirchenmusik haben die Posaunenchöre einen besonderen Stellenwert. Was hat es damit auf sich?

Sauer: Auch Posaunenchöre mit ihrer ganz eigenen Entstehungsgeschichte können sich auf die Bibel stützen: Psalm 150: „Lobet ihn mit Posaunen!“ Schon im Mittelalter waren Blasinstrumente im kirchlichen Bereich bekannt und benutzt. Die typisch evangelische Bläsertradition nahm ihren Anfang in der Herrnhuter Gemeine und in der Erweckungsbewegung: Mit Bläser-Instrumentalisten besaß man so etwas wie „mobile Orgeln“, die man bei Freiluftveranstaltungen einsetzen konnte. Heute sind zum Beispiel Kirchentage ohne Bläser undenkbar. Auch in Aachen kann sich der Posaunenchor unter der Leitung von Christoph Land hören lassen.

Wenn ich befürchte, dass ich total falsch singe und mir das vielleicht peinlich ist – wie soll ich mich im Gottesdienst verhalten?

Sauer: Wer meint, nicht so richtig singen zu können, ist eingeladen, trotzdem mitzusingen, dabei auf „sichere“ Gemeindeglieder zu hören und die Unterstützung der Orgel zu nutzen. Ganz falsche Töne überdeckt die Orgel liebevoll.

Elmar Sauer wurde in Wilhelmshaven geboren und erhielt dort bereits als Schüler seine kirchenmusikalische Grundausbildung. Sein Studium absolvierte er in Bayreuth und Köln und schloss es als Kirchenmusiker mit A-Examen ab. Er ergänzte seine Qualifikationen (Dirigieren / Orgel) durch Teilnahme an einer Reihe von Meisterkursen namhafter Professoren im In- und Ausland. Neben seiner hauptamtlichen Tätigkeit als Kantor an der Auferstehungskirche in Aachen versieht er auch die vielfältigen Aufgaben eines Kreiskantors (kirchenmusikalische Beratung, Orgelsachverständiger, Organisator der Musikalischen Stafette des Kirchenkreises im Rahmen der Luther-Dekade 2012, Leiter der Ausbildung zum C-Kirchenmusiker / Dozent für die Fachrichtungen Orgel und Chorleitung).