Ergreifende Gedenkfeier zum Remembrance Day vertieft deutsch-englische Freundschaft

Aachener Delegation legt in Halifax Kränze zum Gedenken an Kriegsopfer nieder – Pfarrer Bentzin erinnert in Predigt vor 1000 Gottesdienstbesuchern an den „unermesslichen Schmerz“, den Deutsche verursachten

In einem historischen Akt der Versöhnung durfte am Sonntag zum ersten Mal ein deutsches Staatsoberhaupt am Gedenken an die Kriegstoten in London zugegen sein. Es war in diesem Jahr ein besonderer „Remembrance Day“, denn der jährliche Gedenktag an die Opfer der Weltkriege fiel genau auf den hundertsten Jahrestag des Waffenstillstandes zum Ende des Ersten Weltkriegs. Während Prinz Charles und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Gedenkfeier am Ehrenmal der britischen Hauptstadt Kränze niederlegten, taten genau dies in der nordenglischen Stadt Halifax auch die Vertreter einer deutschen Delegation aus Aachen: Bezirksbürgermeisterin Marianne Conradt (CDU), Pfarrer Martin Obrikat als stellvertretender Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Aachen und Oberstleutnant Martin Markowski-Bergrath vom Ausbildungszentrum Technik Landsysteme der Bundeswehr in Aachen.

Beide Nationalhymnen erklingen zum Gedenken

Zuvor waren die Aachener Gäste, darunter die vierköpfige Fahnenabordnung der Bundeswehr, in einer Parade gemeinsam mit englischen Soldaten und Veteranen, dem Bürgermeister von Calderdale und vielen Bürgern vom Rathaus zum „Cenotaph“ genannten Ehrenmal neben dem Halifax Minster gezogen. Etwa 5000 Menschen nahmen dort an der Gedenkfeier und den landesweiten zwei Schweigeminuten teil. In Halifax wie auch in ganz Großbritannien wurden dabei nahezu zeitgleich die Gedenkverse für die Gefallenen verlesen: „They shall grow not old, as we that are left grow old…“ Vor der britischen Nationalhymne erklang allerdings in Halifax zum Ende der Gedenkfeier als größtes Zeichen von Versöhnung und Respekt die deutsche Nationalhymne.

"Wir senken unsere Köpfe in Scham und Demut"

Im an die Gedenkfeier anschließenden Gottesdienst im Halifax Minster sprach Pfarrer Jens-Peter Bentzin vor rund 1000 Zuhörern auf Englisch. In einer sehr persönlichen Predigt spannte er den Bogen von der Geburt seiner eigenen Kinder und einem im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten aus seiner Familie bis in die heutige Zeit, in der wachsende Angst in ganz Europa zu einer erneuten Spaltung führe. „Wir als Gäste aus Aachen nehmen die Schuld an, die wir geerbt haben und müssten die traurige Wahrheit anerkennen, dass unsere Vorfahren unermesslichen Schmerz und unermesslichen Kummer verursacht haben. Wir senken unsere Köpfe in Scham und Demut. Wir gedenken der Opfer und verneigen uns vor ihnen“, sagte er in seiner Predigt. „Zutiefst bewegt sehen wir heute – wie schon vor vier Jahren – dass Sie Ihre Hand in Versöhnung, Freundschaft und gemeinsamer Trauer ausstrecken, und wir nehmen diese Gabe demütig an.“

Sich als "Kinder Gottes" begegnet

Bereits vor vier Jahren, zum Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges, hatte eine Aachener Delegation an den Gedenkfeiern zum „Remembrance Day“ in Halifax teilgenommen und einen Kranz niedergelegt. Auch damals durfte Pfarrer Bentzin im Halifax Minster predigen. „Ich war sehr bewegt und dankbar, dass ich auch in diesem Jahr wieder dazu eingeladen wurde“, sagte Pfarrer Bentzin nach dem Gottesdienst. „Die Reaktionen der Menschen am Ausgang der Kirche haben mir bestätigt, dass angekommen ist, was ich vermitteln wollte, und ich bin darüber sehr froh. Wir begegnen uns hier nicht als Deutsche und Briten, sondern als Kinder Gottes. Die Erinnerung an die schmerzliche Vergangenheit gehört immer dazu, aber sie muss heilsam sein, nicht aufs Neue verletzend.“

Viele Zuhörer weinten im Gottesdienst

Dass viele Gottesdienstbesucher die Kirche zutiefst ergriffen verließen, bestätigte auch Reverend Canon Hilary Barber vom Halifax Minster. Viele Menschen habe er während der Predigt und während des anschließenden Gebetes weinen sehen. Dies war insbesondere der Fall als der jüdische Kantor Rudi Leavor, 1937 vor den Nationalsozialisten aus Berlin geflohen, sich auf Deutsch und Englisch an die Anwesenden wandte und zunächst für die Toten der Kriege das deutsche Wiegenlied „Guten Abend, gute Nacht“ sang und danach das jüdische Trauergebet "El male rachamim" anstimmte.

Durchweg positive Reaktionen auf deutsche Gäste

„Es war unheimlich berührend und wundervoll, vor allem zu hören, wie bescheiden sich der deutsche Pfarrer geäußert hat“, sagte die Gottesdienstbesucherin Emma Greenwood aus Halifax, die mit ihren kleinen Kindern an der Gedenkfeier teilgenommen hatte. „Ich fühlte mich als Mutter durch die Predigt zur Trauer der Eltern über den Tod eines Kindes besonders angesprochen.“ Auch viele ältere Zuhörer äußerten sich durchweg positiv über die Anwesenheit der deutschen Gäste und die Predigt des Monschauer Pfarrers. „Wir sind doch alle nur Menschen und müssen miteinander auskommen“, meinte zum Beispiel Susan King. „Mein Vater hat im Zweiten Weltkrieg gekämpft und sagte immer, eigentlich hätten die Briten und die Deutschen doch viel gemeinsam. Ich fand es sehr berührend, dass heute Gäste aus Deutschland hier waren.“

Unterschiedliche Meinungen über ererbte Schuld der Deutschen

Alan und Marion Pollitt hatten schon vor vier Jahren am Remembrance-Day-Gottesdienst teilgenommen. An seinem Jackett trägt Alan Pollitt zum Remembrance Day die Orden, die sein Vater und Großvater in den Weltkriegen erhalten haben. „Mein Großvater hat im Ersten Weltkrieg in Belgien gegen die Deutschen gekämpft und mein Vater im Zweiten Weltkrieg in Nordafrika“, sagte er. „Aber sie wollten genauso wenig da im Krieg sein wie die Deutschen auf der anderen Seite, denke ich. Ich fand es beeindruckend zu hören, welch großen Schmerz die Deutschen immer noch wegen ihrer Schuld fühlen. Aber die Leute heute waren doch nicht daran schuld. Sie hatten damit nichts zu tun. Ich meine, wir sollten die Vergangenheit einmal ruhen lassen.“ Dass es dennoch sehr eindrucksvoll gewesen sei wie Pfarrer Bentzin sich über die Schuld der Deutschen äußerte, fand hingegen die Belgierin Claire de Ramaix, die heute in Halifax lebt und die im Gottesdienst auch ein Gebet sprach. „Gerade was er am Ende über Schuld und Versöhnung gesagt hat, fand ich sehr wichtig“, sagte sie. „Ich bin dankbar dafür, dass ich das gehört habe.“

Zusammen gelacht und zusammen geweint

Dankbar für die große Freundlichkeit und Gastfreundschaft und die herzliche Aufnahme in der Aachener Partnerstadt äußerten sich auch alle Mitglieder der deutschen Delegation, die in Halifax das Gedenk-Wochenende mit zahlreichen kulturellen Veranstaltungen besuchten. „Wir haben zusammen gelacht und zusammen geweint“, sagte die Aachener Bezirks-Bürgermeisterin Marianne Conradt, die zum ersten Mal in Halifax war. „Die Freundlichkeit, die ich hier erleben durfte, und die das ganze Wochenende über durchgetragen hat, fand ich sehr beeindruckend. Als dann noch die deutsche Nationalhymne bei der Gedenkfeier gespielt wurde, war es für mich sehr bewegend. Ein solches Zeichen der Ehrerbietung hatte ich nicht erwartet.“

Herzlichkeit und Erinnerungskultur haben beeindruckt

Die Fahnenabordnung der Bundeswehr führte Oberstleutnant Martin Markowski-Bergrath. „Neben den emotionalen Reden, Erinnerungen und Feierlichkeiten hat mich vor allem die Herzlichkeit, die uns deutschen Soldaten entgegengebracht worden ist, beeindruckt“, sagte er. „Dabei waren es nicht nur die offiziellen Vertreter und Veteranen, sondern auch scheinbar unbeteiligte Passanten, die sich für unseren Besuch in Halifax bedankt oder uns nur freundlich zugewunken haben. Es würde mich freuen, wenn wir Deutsche uns an der in Halifax gelebten Erinnerungskultur wenigstens ein kleines Beispiel nehmen würden.“

Es zählen die Verbindungen zwischen den Menschen - trotz Brexit

Für den Evangelischen Kirchenkreis Aachen war Pfarrer Martin Obrikat nun nach einer Reise im Jahr 2011 und dem Remembrance-Day-Gedenken 2014 zum dritten Mal in der Partnerstadt Halifax. „Hier ist eine Freundschaft gewachsen, die trägt“, beschrieb er seinen Eindruck gegen Ende des Wochenendes. „Für mich war es am Beeindruckendsten, wie das Gedenken gleichzeitig immer mit der Absicht zur Versöhnung verbunden ist. Es gab so viele emotionale Momente: die deutsche Nationalhymne, das Lied des jüdischen Kantors, die Schweigeminute, das Glockenläuten, die Predigt…“ Die Delegation aus dem Kirchenkreis hatte die Reise mit einer Haltung des „Jetzt erst recht“ hinsichtlich des bevorstehenden Brexit angetreten und gleichzeitig auch als Element der Friedensarbeit im aktuellen Themenjahr „Frieden geht anders“. Obrikat sagte, nach der Reise in die Partnerstadt finde er den Austritt Großbritannniens aus der EU noch einmal umso trauriger und bedauerlicher, aber ungeachtet technischer und rechtlicher Aspekte seien es doch die Verbindungen zwischen den Menschen und den Völker, die zählten. „Wir werden an unserer Freundschaft weiterarbeiten, egal ob die Briten in der EU sind, oder nicht“, bekräftigte Pfarrer Obrikat.

Direkter Gegenbesuch am kommenden Wochenende

Die nächste Gelegenheit dazu hat der Evangelische Kirchenkreis Aachen beim direkten Gegenbesuch der Freunde aus Halifax am kommenden Wochenende: Reverend Canon Hilary Barber vom Halifax Minster und drei Mitreisende werden gemeinsam mit Pfarrer Bentzin und weiteren Beteiligten aus dem Kirchenkreis Aachen den Eröffnungsgottesdienst der Synode am Freitag zweisprachig gestalten. Am Samstag steht ein Workshop mit den Gästen zum Jahresthema „Frieden“ unter dem Titel „Schuld eingestehen: Erfahrungen von der gemeinsamen Feier des Remembrance Day in Halifax, 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs“ auf der Tagesordnung der Synode. Am Samstag werden die Partner aus Halifax außerdem im Aachener Rathaus empfangen und nehmen an einer Gedenkstunde in der Aula Carolina teil. Am Sonntag, dem Volkstrauertag, legen sie einen Kranz auf dem „Ehrenfriedhof“ auf dem Waldfriedhof nieder.

(Text: C. Braun / Kirchenkreis Aachen)