Viel Vertrauen zum „Fremdkörper“ im System

Klinikseelsorgende besuchen im Aachener Uniklinikum Patienten am Krankenbett, haben aber noch viele andere Aufgaben – Erschreckende Diagnosen machen Prioritäten im Leben deutlich

„Weinen aushalten, das können die meisten Ärzte ganz schlecht.“ Sabine Hölzer-Pöll arbeitet seit dreißig Jahren am Aachener Uniklinikum – nicht als Ärztin, sondern als Klinikseelsorgerin. Sie hat gelernt, es auszuhalten, wenn Menschen verzweifelt sind, nicht mehr weiterwissen und weinen. Denn das ist Teil ihres Jobs. „Wenn Ärzte nichts für einen Patienten tun können, damit können sie ganz schlecht umgehen“, ist ihre Erfahrung. „Aber Verzweiflung mit auszuhalten, das ist unsere Aufgabe. Oft steckt dann die Lösung für die Probleme in den betroffenen Menschen selbst“, sagt die Pfarrerin. „Und so heißt es doch auch in Psalm 68: Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch, damit klarzukommen!“

Ansprechpartner für Kranke, Angehörige und Mitarbeitende

Allein im Hauptgebäude der Uniklinik RWTH Aachen gibt es 1.400 Betten. Pro Jahr versorgt das Klinikum fast 50.000 stationäre und mehr als 180.000 ambulante Fälle. Für Kranke, ihre Angehörigen sowie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Hauses stehen evangelische und katholische Klinikseelsorger als Ansprechpartner zur Verfügung. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist der Besuch von Patienten in deren Zimmern. Aber die beiden Seelsorgeteams erfüllen noch viele weitere Aufgaben: Von der Gestaltung des sonntäglichen Gottesdienstes in der Kapelle des Klinikums über Andachten für Verstorbene, Bestattungen, bis hin zu Schulungen für die „Grünen Damen“ (und Herren) und die Auszubildenden, zum Beispiel im Umgang mit Todkranken oder in Gesprächsführung. „Wir sind ein Teil des Systems, und gleichzeitig auch ein Fremdkörper hier“, so beschreibt Pfarrerin Hölzer-Pöll ihre Position im flächenmäßig größten Krankenhausgebäude Europas. „Dazuzugehören, und doch auch wieder nicht, das sehe ich als Chance!“

Direkt auf einer tieferen Ebene im Gespräch

Für den Evangelischen Kirchenkreis Aachen sind zwei Pfarrerinnen und zwei Pfarrer – mit einer ganzen und drei halben Stellen – am Aachener Uniklinikum tätig. Eine weitere Krankenhausseelsorge-Stelle des Kirchenkreises gibt es am Rhein-Maas-Klinikum in Würselen. Im Uniklinikum findet man die Klinikseelsorge und die Kapelle im Erdgeschoss, hinter EDV-Abteilung und Cafeteria, ganz am Ende von Gang B. Aus dem Fenster seines Büros dort schaut Pfarrer Arnd Herrmann auf eine große, seit Jahren brachliegende Baugrube für die Erweiterung des Klinikums. Der 58-Jährige war früher Gemeindepfarrer in Laurensberg und Richterich und ist seit 2004 am Uniklinikum tätig. „Mit den Menschen, die ich hier treffe, komme ich oft direkt auf einer tieferen Ebene ins Gespräch als das im Alltag sonst der Fall ist“, sagt der Seelsorger. Wenn er sich den Patienten als Pfarrer vorstellt und ein Gespräch anbietet, mache er fast nur gute Erfahrungen, erzählt er. „Uns wird trotz der vielen schlechten Nachrichten über Kirche sehr viel Vertrauen entgegengebracht. Die Leute freuen sich, wenn wir kommen und erzählen oft sehr Privates. Nur selten werden wir abgewiesen.“

Besuch bei Einsamen, Schwerkranken und Geburtstagskindern

Die Seelsorgenden am Uniklinikum haben Zugriff auf die Patientenliste und können zwar nicht die medizinischen Daten der Kranken sehen, wohl aber, ob sie aus der Region kommen oder von außerhalb, ob Angehörige als Kontaktpersonen vermerkt sind und wie lange sie sich stationär im Klinikum aufhalten. „Wenn wir zum Beispiel sehen, dass jemand keine Angehörigen hat, dass er lange im Krankenhaus ist oder dass er an diesem Tag Geburtstag hat, sind das für uns Hinweise, die Person zu besuchen“, sagen die Klinikseelsorger. Sabine Hölzer-Pöll: „Besonders vor schweren Operationen oder wenn eine Diagnose erschreckend war, ist es wichtig für die Menschen, wenn sie mit jemandem sprechen können.“

Gemeinsames Gebet mit tröstender Wirkung

Wie positiv die seelsorgerische Begleitung sich auf die Patienten auswirken kann, beschreibt Arnd Herrmann an einem Beispiel. Kürzlich habe er eine Patientin mittleren Alters besucht, die durch einen Hirnschlag ihr Augenlicht verloren hatte. „Ihr Leben hatte sich von einem Moment auf den anderen völlig verändert. Sie hatte keine Hoffnung mehr, wusste nicht, wie es weitergehen sollte und wollte nicht mehr leben“, erzählt Herrmann. Nachdem sie ihm im Gespräch ihre Not anvertraut hatte, habe er sie gefragt, ob sie vielleicht zusammen ein Gebet sprechen sollten und mit ihr Psalm 23, „Der Herr ist mein Hirte…“, gebetet. „Da hat sich plötzlich etwas in ihr gelöst und sie hat angefangen zu weinen, was sie vorher nicht konnte“, berichtet der Seelsorger. In der folgenden Zeit, in der er sie weiter besuchte, habe die Patientin in kleinen Schritten begonnen, ihre neue Situation anzunehmen und darüber nachzudenken, wie sie trotz der neuen Einschränkung ihr Leben weiterführen könne. „Das sind für mich die schönen Momente, hier im Klinikum, wenn ich sehe, dass es jemandem bessergeht, körperlich oder auch psychisch.“

Pfarrer verteilt als Nikolaus Weckmänner

Spaß macht es dem Klinik-Pfarrer auch, einmal im Jahr früh morgens in sein Nikolaus-Kostüm zu schlüpfen und zu Beginn der Frühschicht um 6 Uhr des Nikolaus-Tages in der Eingangshalle 2.000 Weckmänner zu verteilen, an alle, die dort ankommen. „Aber nicht nur einfach so, sondern mit einer Info, wer der Nikolaus war und warum der Nikolaustag gefeiert wird“, sagt Arnd Herrmann. Auch zu anderen Feiertagen des Kirchenjahres legt die Klinikseelsorge im Haus Broschüren aus, sie hält Mittagsandachten in der Weihnachts- oder Passionszeit und schickt Grüße mit meditativen Texten an alle Stationen.

Seelsorge-Teams setzten sich für Bestattung früh verstorbener Kinder ein

Besonders emotional und belastend ist hingegen ein Anlass, den auch die Klinikseelsorge gestaltet, immer am zweiten Sonntag im Dezember: der Candlelight-Day. „An diesem Tag halten meine Kollegin Sabine Haag und der katholische Kollege Ulrich Roth eine Andacht in Erinnerung an alle verstorbenen Kinder hier in der Kapelle“, erklärt Sabine Hölzer-Pöll. Zweimal pro Jahr leitet die Klinikseelsorge außerdem eine Gemeinschaftsbeerdigung auf dem Westfriedhof für früh verstorbene Kinder bis zur 24. Schwangerschaftswoche. „Früher wurden die sterblichen Überreste dieser Kinder einfach ‚entsorgt‘. Sie wurden nicht bestattet. Wir haben uns ökumenisch dafür eingesetzt, dass sie einen Sarg bekommen. Bei der Feier und Beisetzung sind jetzt immer mindestens 30 Menschen, oft aber mehr, etwa bis zu 90.“

Zahl der "Anatomie-Bestattungen" steigt

Auch für die „Anatomie-Beerdigung“ ist die Klinikseelsorge zuständig und gestaltet sie gemeinsam mit Medizinstudenten. Etwa 150 Menschen stellen in Aachen jedes Jahr ihren Körper nach dem Tod der Anatomie zur Verfügung, sagt Arnd Herrmann. „Und es werden immer mehr“, meint er. „Ein Grund dafür ist wahrscheinlich, dass dies günstiger ist als eine normale Beerdigung.“ Verabschiedungs-Gottesdienste und Andachten halten die Klinikseelsorgenden darüber hinaus für die Verstorbenen der Palliativstation des Uniklinikums ab. Sie richten sich an die Mitarbeitenden der Station beziehungsweise die Angehörigen der Verstorbenen.

Ganzes Leben relativiert sich mit einem Schlag

„Wenn man sich jeden Tag mit den Themen Krankheit und Tod auseinandersetzen muss und die plötzlichen Schicksalsschläge sieht, bekommt man schon manchmal Angst, dass es einen genauso treffen könnte“, gibt Pfarrerin Hölzer-Pöll zu. Besonders wichtig sei für sie in diesen Momenten der Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen. In den Jahren ihrer Tätigkeit am Klinikum haben Sabine Hölzer-Pöll, Arnd Herrmann und ihre Kollegen die Erfahrung gemacht, dass schwere Erkrankungen die Menschen oft dazu bringen, ihre Prioritäten im Leben zu überdenken. „Ich habe schon Patienten kennengelernt, denen Erfolg, Karriere und Geld bis dahin das Wichtigste waren – und deren ganzes Leben sich mit einem Schlag relativiert hat“, sagt Pfarrer Herrmann. Andere hingegen erfreuten sich eines starken Gottvertrauens, das auch eine schwere oder sogar tödliche Krankheit nicht erschüttern könne. Auf die Frage, ob er selbst angesichts des vielen Leids, das er täglich sehe, schon Glaubenszweifel gehabt habe, muss der Pfarrer einen Moment nachdenken. „Nein, richtig Zweifel habe ich selbst noch nicht gehabt“, sagt er dann. „Aber große Fragen an den lieben Gott habe ich manchmal schon – das bleibt hier im Haus nicht aus.“

(Text: C. Braun / Kirchenkreis Aachen)

Sonntags-Gottesdienst um 10.30 Uhr, Osternacht am 20. April

Die Evangelische Klinikseelsorge feiert jeden Sonntag um 10.30 Uhr in der Kapelle des Uniklinikums einen Gottesdienst mit Abendmahl. Für die Osternacht am Samstag, 20. April, ist um 19.30 Uhr eine ökumenische Feier geplant, in der Pfarrer Arnd Herrmann predigt.

Weitere Informationen und Termine finden Sie unter: www.seelsorge-uniklinik-aachen.de