„Mutige Menschen mit klaren Prioritäten“

Der Evangelische Kirchenkreis Aachen feiert seine mehr als 175-jährige Geschichte mit einer "andächtigen Zeitreise" - Außergewöhnlicher Gottesdienst lässt für 200 Gäste mit Musik und Erzählungen Artefakte aus der Vergangenheit lebendig werden

"Grandios", "beeindruckend", "fabelhaft" und "großartig" waren nur einige der Adjektive, mit denen die Besucherinnen und Besucher des Gottesdienstes zum 175-jährigen Bestehen des Evangelischen Kirchenkreises anschließend auf Pfarrer Jens-Peter Bentzin zukamen. Denn viele der etwa 200 Festgäste in der Aachener Auferstehungskirche waren von der ungewöhnlichen Gestaltung so begeistert, dass sie Pfarrer Bentzin und Pfarrer Martin Obrikat, die den Gottesdienst maßgeblich mit vorbereitet hatten, persönlich für das Erlebnis danken wollten. Als Jubiläumsfeier hatte der Vorbereitungskreis sich nämlich ausdrücklich gegen einen starren und vorhersehbaren Festakt entschieden. Stattdessen lud Pfarrer Bentzin die Anwesenden dazu ein, mit ihm und allen Mitwirkenden auf eine "andächtige Zeitreise" zu gehen, in der "Stimmen aus vergangenen Zeiten zu Gehör gebracht" wurden und Artefakte aus der Geschichte des Kirchenkreises lebendig werden und für sich sprechen konnten.

Erzählungen und Musik ließen vergangene Jahrhunderte wieder aufleben

So stand für jedes Jahrhundert seit der Reformation ein Gegenstand, der eine beispielhafte Episode protestantischer Geschichte in der Region Aachen verkörperte. Musikstücke aus der jeweiligen Zeit - vom noch mittelalterlich anmutenden Thema über Paul Gerhardt und die Marseillaise bis zu neuen Kirchenliedern der Gegenwart - untermalten stimmungsvoll die Erzählungen. Perfekt ergänzten sich dabei das Spiel des Aachener Posaunenchors unter der Leitung von Christoph Land und Kreiskantor Elmar Sauer auf der Orgel und nachher dem Keyboard.

Viele Stimmen tragen zum Gelingen der "Zeitreise" bei

Eine Deklamation der "Organischen Artikel" der Französischen Republik, erlassen 1802 und auszugsweise von Pfarrer Bentzin auf Französisch vorgetragen, spielte in der Zeitreise ebenso eine Rolle wie Zitate aus dem Bericht von Superintendent Eichholz von 1960 über das unglaubliche Wachstum der Gemeinden durch den Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen. Ein Schmunzeln erzeugten bei vielen die von Claudia Immendorf und Hans Rienäcker verlesenen Passagen aus dem ersten Protokoll der Aachener Kreissynode vom 12. Juni 1838, die als Gründungsdatum des Kirchenkreises gilt - insbesondere die Nennung der damals an- beziehungsweise abwesenden Pfarrer.

Dunkles Kapitel in der Zeit des Nationalsozialismus

An die dunkle Geschichte der evangelischen Kirche im Dritten Reich erinnerte Pfarrer Bentzin eindrucksvoll, indem er ein Bild der am 10. November 1938 ausgebrannten Aachener Synagoge erläuterte, dann die "vollständige Liste" der Proteste von Seiten der evangelischen Gemeinde und der Kreissynode ankündigte, die er bei sich habe - und dann einige leere, weiße Blätter zeigte. Gleichzeitig stand für diese Zeit aber auch das später wieder aufgefundene Abendmahlsgeschirr der "kleinen aber aufrechten Schar" der Bekenntnisgemeinde, die sich zu Zeiten des Nationalsozialismus in Aachen in einem Haus in der Aureliusstraße getroffen hatte, um Gottesdienst zu feiern.

Taufschale, Kruzifix und Konfi-Cup

Taufschale und Taufbecken aus der Stolberger Finkenberg- und Vogelsangkirche kamen als Symbole der verschiedenen evangelischen Bekenntnisstände ebenso zur Geltung wie das eiserne Kruzifix aus der evangelischen Kirche in Monschau, welches König Friedrich Wilhelm III. der Gemeinde 1821 geschenkt hatte, weil sie als eine der ersten die Vereinigung der reformierten und der lutherischen Kirche zur "Union" vollzogen hatte. Für die jüngste Vergangenheit standen schließlich ein Brocken Steinkohle aus dem Aachener Revier und ein Aachener Stadtplan von 1959, welche das Gemeindewachstum nach dem Zweiten Weltkrieg verdeutlichten und für das neue Jahrhundert ein Ulos aus dem Partnerkirchenkreis in Indonesien sowie der "Konfi-Cup"-Pokal, den die Konfirmanden aus der Gemeinde Roggendorf im Jahr 2006 errungen hatte. Letzterer schlug dann die Brücke zum Blick in die Zukunft, bei dem Pfarrer Bentzin fragte: "Wohin mögen wir unterwegs sein? Unser 250. Jubiläum wird im Jahr 2088 sein. Sollen wir dann feiern, dass es uns, die evangelische Kirche, überhaupt noch gibt? Oder dass dann die eine apostolische Kirche Wirklichkeit geworden ist?"

Superintendent erinnert an Wanderasyl und Engagement Jochen Klaars

Einen besonderen Schwerpunkt legte schließlich Superintendent Hans-Peter Bruckhoff in seiner Predigt auf die Beziehung des Kirchenkreises zu Flüchtlingen, die zu uns kommen. "Auch wenn hier in der Region die Grenzen zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden verschwunden sind - das was nun an den EU-Außengrenzen geschieht, beschäftigt uns", sagte er. Er erinnerte an das Wanderkirchenasyl, das Gemeinden im Kirchenkreis vielen Flüchtlingen gewährt hatten, und das Engagement des viel zu früh verstorbenen KSV-Mitglieds Jochen Klaar, der in der landeskirchlichen Projektgruppe "Wirtschaften für das Leben" eine deutliche Positionierung der Kirche gegenüber der Globalisierung gefordert hatte. "Wir müssen weiter wach bleiben und unsere Anliegen im Glauben formulieren", sagte Bruckhoff. "In unserem Kirchenkreis gab es zwar keine 'Heldinnen und Helden', aber es gab und gibt viele mutige Menschen mit klarer Prioritätensetzung!"

Vizepräsident Weusmann: "großartiger Nachmittag und Abend"

Sehr positiv äußerten sich nach dem Gottesdienst beim anschließenden Beisammensein nicht nur die vielen Gäste aus dem Kirchenkreis Aachen selbst, sondern auch Dr. Johann Weusmann, der seit Anfang des Jahres Vizepräsident der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) ist. Er hatte dem Kirchenkreis am Jubiläumstag einen Besuch abgestattet, um sich in seiner neuen Funktion über die die Themen und die Arbeit in der Region zu informieren und auch persönlich einen Kontakt zu knüpfen. "Dieser Gottesdienst war der krönende Abschluss", sagte Weusmann. "Es war ein großartiger Nachmittag und Abend. Ich bin beeindruckt von den Gesprächen, die ich heute im Kirchenkreis Aachen führen konnte, von der Offenheit der Menschen und ihrem diakonischen Engagement, aber auch davon, wie hier Weltverantwortung wahrgenommen wird." Vizepräsident Weusmann hob hervor, dass der Gottesdienst mit seiner Zeitreise dokumentarisch und selbstkritisch gewesen sei, dabei sehr konkrete Einblicke in die Kirchengeschichte gegeben habe, auch anspruchsvoll war, aber die Zuhörer gleichzeitig gut einbezogen und mitgenommen habe. "In einem Wort", so Weusmann lachend, "ich komme gerne wieder!"

Historischer Vortrag zum Gründungsjahr am Montag, 16. September

Zum einem erneuten Besuch in der Auferstehungskirche in Zusammenhang mit dem Kirchenkreisjubiläum lud schließlich auch Pfarrer Bentzin die Anwesenden ein. Denn am Montag, 16. September, wird der Historiker Jörg von Norden dort einen Vortrag mit dem Titel „1838 – Kirche und Staat im preußischen Kirchenkreis Aachen“ halten und dabei die Hintergründe der Kirchenkreisgründung beleuchten. „Mich haben jetzt schon viele Leute angesprochen auf die Episoden der Geschichte, die wir im Gottesdienst thematisiert haben“, sagte Bentzin. „Mein Eindruck ist, dass es noch ein großes Interesse an weiteren Informationen gibt, und es war toll für mich zu sehen, dass das von uns erdachte Format Erfolg hatte und die Besucher zum Nachdenken über die eigene Kirche gebracht hat.“ Nun wünsche er sich, dass viele Gäste die Anregungen mit in die eigenen Gemeinden nähmen, um auch dort nach ihrer Geschichte zu forschen. „In den kommenden Jahren und hin zum Reformationsjubiläum im Jahr 2017 gibt es noch viele Anlässe für die Beschäftigung mit der Geschichte und viele Bausteine, aus denen sich ein Bild ergibt. Heute, dieser Gottesdienst, war so gesehen nur die Initialzündung!“

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