Erntedank – Leben und Leben lassen
Es lässt sich nicht übersehen: das Erntedankfest erfreut sich großer Beliebtheit
Und das offenbar nicht nur in ländlichen Gegenden, wo ja zumindest noch ein Teil der Bevölkerung in und von der Landwirtschaft lebt, sondern auch in den Städten, wo es zu jeder Jahreszeit fast jedes Obst und Gemüse zu kaufen gibt, von Mehl, Brot, Fleisch und Milchprodukten ganz zu schweigen.
Die Fähigkeit des Staunens bewahren
Woher kommt diese Attraktivität des Erntedanks? Ist es eine romantische Sehnsucht, die zurück zur Natur oder gar zurück in alte Zeiten will? Wobei weder die Natur noch die alten Zeiten romantisch waren: der Brauch des Erntedankes kommt ja auch aus der Erfahrung von Missernten und Hunger. Diese Abhängigkeit von den Kräften der Natur ist den Menschen der „Dritten Welt“ bis heute vertraut, während wir im industrialisierten Europa sie nur noch vergleichsweise selten spüren.
Oder hat sich im Erntedank auch die menschliche Fähigkeit des Staunens erhalten? Des Staunens darüber, wie aus kleinen Samen Früchte wachsen – ohne dass wir Menschen, ob nun mit oder ohne Kunstdünger, dieses Wachsen „machen“ können?
Erntedank heißt im Grunde: Staunen über geschenktes Leben
Oder schließlich: spiegelt sich im Erntedank nicht auch die erschreckende Einsicht, dass Leben nur möglich ist, indem anderes Leben beendet, aufgezehrt wird? Dass das saftige Steak auf unserem Teller einmal Teil eines Wesens war, das wie wir geboren wurde, atmete und lebte? Es ist wohl kein Zufall, dass sich bis heute zumindest bei Jägern Bräuche aus alter Zeit erhalten haben, die das erlegte Wild symbolisch ehren. Oder dass Angler zumindest früher den ersten gefangenen Fisch wieder ins Wasser zurückwarfen. Oder dass Bauern die ersten Früchte des Feldes oder auch die letzten geschnittenen Ähren vor Gott brachten.
Erntedank heißt also im Grunde Staunen über geschenktes Leben – und auch die nüchterne Rechenschaft darüber, was unser Leben andere (und zukünftige Generationen) kostet. Im Erntedank steckt also immer auch die Frage nach der Gerechtigkeit: ist wirklich jeder Verbrauch, jedes Opfer gerechtfertigt? Wie weit ist der Reichtum der einen erkauft durch die Armut der anderen? Reichen die Güter dieser Erde nicht aus, um alle satt zu machen?
Die Frage nach der Zukunft und dem Leben
Und schließlich stellt Erntedank – im Herbst eines Jahres, und vielleicht auch im Herbst eines Lebens – die Frage nach der Zukunft: aus welchen Vorräten kann ich zehren, wenn die Tage immer kürzer und das Dunkel immer größer wird? Bei allem, was wir säen und ernten, planen und leisten (müssen) – wir leben nicht aus eigener Kraft. Und das Glück unseres Lebens kommt wohl eher aus dem, was wir geschenkt bekommen. Dafür lohnt es sich zu danken - und nüchtern die eigenen Grenzen zu respektieren. Und sich dem Gott anzuvertrauen, in dessen Händen unser Wachsen und Reifen, und auch unser Verwelken und Sterben liegt.
Text: Pfarrer Ulrich Holste-Helmer