Die „Reformation von unten“ im Blick behalten!

PD Dr. Jörg van Norden hält anregenden Vortrag zum Kirchenkreisjubiläum – Spannungsverhältnis zwischen evangelischer Kirche und Staat über die Jahrhunderte erläutert – Kirchengeschichte gibt Denkanstöße für heutiges Handeln

In einer aktuellen Umfrage für das evangelische Magazin „chrismon“ geben 90 Prozent der Befragten an, sie fänden es richtig, dass die Kirche sich zu politischen Fragen äußert. Für uns ist es heute selbstverständlich, dass die Kirche sozial-politische Denkschriften herausgibt und darin Stellung bezieht, zum Beispiel zur Kluft zwischen Arm und Reich, zur Homo-Ehe oder zur Asylpolitik. Wie es jedoch zu diesem heutigen „Wächteramt“ der Kirche gegenüber dem Staat gekommen ist, wie sich das Spannungsverhältnis zwischen evangelischer Kirche und Staat seit der Reformation gewandelt hat und vor allem auch, was das für unser aktuelles Handeln bedeutet, das erläuterte Privatdozent Dr. Jörg van Norden am Montagabend in einem sehr aufschlussreichen Vortrag in der Aachener Auferstehungskirche.

Verschiedene Ansichten schon in der Bibel

Der historische Vortrag war konzipiert als Veranstaltung zum Kirchenkreisjubiläum in diesem Jahr. Er ging jedoch weit über eine bloße Erörterung der Umstände der Kirchenkreisgründung im Jahr 1838 hinaus und stellte dieses Datum in den Zusammenhang kirchengeschichtlichen Denkens vom Brief des Paulus an die Römer bis heute. Von Anfang an, so Dr. Jörg van Norden, habe es zwei verschiedene Auffassungen vom Verhältnis zwischen Kirche und Staat gegeben: Einerseits die im Römerbrief vertretene Ansicht, der Staat sei Anordnung Gottes und ein Christ habe ihm zu dienen. Andererseits die aus der Offenbarung des Johannes herauszulesende Auffassung, der Staat sei des Teufels - was auch auf die Niederschrift dieses Teils der Bibel nach der Christenverfolgung zurückzuführen sei. Der Historiker erläuterte dieses Spannungsverhältnis anhand der Konstantinischen Wende und Luthers Zwei-Reiche-Lehre und ging dann ausführlich auf den Sonderstatus der Gebiete Jülich, Cleve, Berg und Mark ein, zu denen auch große Teile des heutigen Kirchenkreises Aachen gehören.

Aachener lehnen "summus episcopus" ab

„In diesen Gebieten konnte sich die ‚Reformation von unten‘ ungestört entwickeln“, sagte der Historiker. „Vom 16. Jahrhundert bis zum Wiener Kongress 1815  hat sich die Reformation in Jülich und Cleve am unverfälschtesten erhalten.“ Problematisch wurde dieses Erbe allerdings, als die Kirchenprovinz 1817 an Preußen fiel und König Friedrich Wilhelm III. nicht nur eine liturgische Union zwischen Lutherischen und Reformierten durchsetzen wollte, sondern sich selbst in einer neuen konsistorial geprägten Kirchenverfassung als „summus episcopus“, also oberstem Bischof, festschreibt. Dies lehnten die damaligen Aachener Synodalen ab. „Die Aachener wollten ihre presbyterial-synodale Ordnung, also ihre ‚Reformation von unten‘ unbedingt beibehalten und sich nicht vom Landesherrn als Kirchenleitung bestimmen lassen“, sagte van Norden. In Aachen habe wie in Jülich die Auffassung geherrscht, man sei „eine Gemeinde von gleichen Brüdern“, und die Kirchenleitung müsse weiter bei den Synoden liegen.

"Lebendige und wichtige Tradition"

In diesem Konflikt zwischen Monarch und Synoden wurde mit der rheinisch-westfälischen Kirchenordnung von 1835 schließlich ein Kompromiss gefunden, der das presbyterial-synodale Verfassungsprinzip weitgehend bewahrte. „Das Jahr 1838 als Jahr der Gründung Ihres Kirchenkreises ist in diesem Zusammenhang als Datum einer lebendigen, wichtigen Tradition zu sehen, die die Gestalt unserer Kirche heute ausmacht“, fuhr der Referent fort. „Die Konsistorialverfassung war ein Meer, in dem die kleine Insel der presbyterial-synodalen Verfassung überlebt hat – und dann hat sie sich schließlich durchgesetzt, so dass sie heute in ganz Deutschland gilt.“ 

Flucht in die Arme der Monarchie

Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts sei dann aber im Verhältnis von Kirche und Staat eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten gewesen, die van Norden mit den Schlagworten „Flucht der Kirche in die Arme der Monarchie“, „Ehe von Thron und Altar“ sowie „Kriegstheologie“ und „Nationale Sendung“ umschrieb. Ein Bedrohungsfühl auf Seiten der Kirche durch die Industrialisierung, die Demokratiebewegung der Paulskirche sowie den Fortschritt der Moderne hätten dazu geführt, dass die vorherigen demokratischen Bestrebungen erlahmten.

"Nicht vor dem Wächteramt der Kirche scheuen!"

Die Barmer Theologische Erklärung von 1934 schließlich, in der die Bekennende Kirche als Oppositionsbewegung evangelischer Christen sich gegen den Nationalsozialismus wandte, wertete van Norden als „Rückkehr zur Tradition“, jedoch auch als ambivalent, da der Staat als „Anordnung Gottes“ trotz allem anerkannt worden sei. „Die Widerstandsschreiben der Bekennenden Kirche blieben immer nicht-öffentlich und brachten damit nichts“, sagte der Historiker. „Heute ist das anders, da die Positionen der Kirche öffentlich gemacht und dann offen und kontrovers diskutiert werden können.“ So laufe die Betrachtung der Kirchengeschichte letztendlich darauf auch hinaus, so van Norden: „Wir dürfen uns nicht vor dem Wächteramt der Kirche scheuen und müssen politische Fragen diskutieren. Außerdem ist die presbyterial-synodale Kirchenordnung mit ihrem demokratischen Verständnis, bei dem Pfarrer und Laien auf Augenhöhe ins Gespräch kommen, ein wertvolles Erbe, das es zu bewahren gibt.“

Aus Kirchengeschichte Schlüsse ziehen für das Reformationsjubiläum 2017

Für seinen Vortrag dankte Superintendent Hans-Peter Bruckhoff Dr. Jörg van Norden herzlich und merkte an, ob nicht auch in den Vorbereitungen zum Reformationsjubiläum im Jahr 2017 seitens der evangelischen Kirche ein bedenklicher Trend zu erkennen sei, die ‚Reformation von unten‘, die eine entscheidende Bedeutung für die Gemeindebildung gehabt habe, aus dem Blick zu verlieren. Dem pflichtete der Historiker uneingeschränkt bei: „Ich sehe auch, dass hier eine Gefahr besteht, den 500. Jahrestag der Reformation nur an der Person Luthers festzumachen. Wenn sich das Jubiläum aber nur an den Heroen orientiert, wird es ein Jubiläum der Bewunderer, das nicht zu einem Aufbruch führen kann, bei dem Menschen selbst aktiv werden. Ich würde mir wünschen, dass das Reformationsjubiläum auf die so wichtige ‚Reformation von unten‘ eingeht, sonst wird es nur ein Rückblick und kein Blick nach vorn, der die heutigen Gemeinden mitnimmt.“