„Europa vor der Wahl – Europas Werteverständnis und Wege aus der Krise“

Kirchenkreise Aachen und Jülich eröffnen neue Reihe "Evangelische Standpunkte"

Der Jülicher Superintendent Jens Sannig begrüßte auch im Namen des Aachener Superintendenten Hans-Peter Bruckhoff die Besucherinnen und Besucher im bis auf den letzten Platz besetzten Pädagogischen Zentrum des Gymnasiums Zitadelle in Jülich. Sein Gruß galt insbesondere den Gästen auf dem Podium: dem EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz, der Präses der EKD-Synode Dr. Irmgard Schwaetzer, dem Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland Manfred Rekowski, dem Präsidenten der Eglise Evangelique au Maroc Pfarrer Samuel Amedro sowie dem Redakteur Joachim Zinsen vom Aachener Zeitungsverlag als dem Moderator der Veranstaltung.

"Die Veranstaltung heute ist zugleich die Auftaktveranstaltung für ein neues Gesprächsformat der Kirchenkreise Aachen und Jülich in der Euregio: "Evangelische Standpunkte". Als Thema für das Jahr 2014 wurde gewählt: Europa - welche Werte erneuern und stärken unsere Gemeinschaft?", so Jens Sannig. Und weiter: "Standpunkte dienen dazu, uns miteinander darüber zu verständigen, woran wir glauben und wofür wir stehen. Sie helfen uns, Orientierung zu gewinnen und darin erkennbar für andere zu werden. Standpunkte zu gewinnen ist eine Gemeinschaftsbewegung. In aller Offenheit und zugleich aus der Verbindlichkeit des Evangeliums und als Konsequenz aus unserem Glauben wollen wir aus evangelischer Sicht Position beziehen: zu aktuellen politischen und ökonomischen Herausforderungen." Dass die Krise in der Ukraine das ursprünglich geplante Thema "Europas Werte ..." ein wenig an den Rand drängte, war angesichts der dramatischen Entwicklung an der Ostgrenze der EU nicht anders zu erwarten.

Ukraine: Dialog und Deeskalation statt Krieg

Deutliche Worte fand Martin Schulz für das Geschehen in der Ukraine resp. auf der Krim: Russland verhalte sich eindeutig völkerrechtswidrig durch die Annexion der Halbinsel. Darauf müsse die EU mit Sanktionen antworten, die im wirtschaftlichen Bereich natürlich auch die europäischen Länder selbst treffen würden. Zugleich aber, und da bemühte der EU-Ratspräsident einen Begriff aus der Ostpolitik Willy Brandts, gehe es darum, "Wandel durch Annäherung" zu betreiben. Konkret: gemeinsame Interessen mit Russland seien auszuloten, um auch auf diesem Wege eine Deeskalation der Lage zu erreichen. Ziel müsse es sein, auf jeden Fall eine militärische Auseinandersetzung zu vermeiden. Dialog sei der beste Weg, Krieg zu verhindern. Es klinge simpel, aber: Menschen, die reden, schießen nicht, so Schulz unter starkem Beifall des Publikums.

Dr. Irmgard Schwaetzer sah die Aufgabe der deutschen Kirchen darin, mit ihren Partnerinnen und Partnern in der Ukraine und in Russland den Gesprächskontakt nicht abreißen zu lassen, auch wenn es konkret in der Ukraine z.B. mit der russisch-orthodoxen Kirche aktuell durchaus Probleme durch eine unterschiedliche Sicht auf die politische Situation gebe. Zugleich warb sie für eine "Deeskalation der Rhetorik". Präses Manfred Rekowski, wandte sich gegen eine sich hochschraubende Eskalationsspirale und schloss sich Schulz' Plädoyer für einen Wandel durch Annäherung an.

EU-Außengrenzen: Europas Flüchtlingspolitik verletzt grundlegende Menschenrechte

Samuel Amedro, Pfarrer und Präsident der Eglise Evangelique au Maroc (EEaM), nahm kein Blatt vor den Mund: Europas Bekenntnis zu den Menschenrechten ende offensichtlich an seinen Außengrenzen. Man lasse Rohstoffe und gut ausgebildete Menschen die Grenzen passieren, aber für ungezählte notleidende Flüchtlinge gebe es keinen Weg auf den Kontinent. Marokko sei zugleich Europas Mülltonne und Europas Polizist geworden; sein Land erhalte jährlich etwa 800 Millionen EURO dafür, dass es die Grenzen nach Norden blockiere. Rund 40.000 Flüchtlinge ohne Papiere aus den Ländern südlich von Marokko befänden sich zur Zeit im Land. Und ihre Wut über die aussichtslose Lage richte sich inzwischen nicht nur gegen Europa, sondern sogar gegen die evangelische Kirche, die mit ihren schwachen Kräften versuche, den Flüchtlingen zu helfen.

Die Situation an den EU-Außengrenzen sei die größte Anfechtung, erklärte Präses Rekowski, ein nicht hinnehmbarer Zustand. Er beklagte abebbende Empörungswellen und forderte grundlegende Änderungen. Ähnlich EKD-Präses Irmgard Schwaetzer: Europa müsse ein freundliches Gesicht bekommen. Die EU-Grenzsicherungsagentur FRONTEX spiele eine undurchsichtige Rolle. Außerdem müssten die EU und ihre Mitgliedstaaten wenigstens einen Teil der Fluchtursachen bekämpfen, Afrika aus Abhängigkeiten befreien, beim wirksamem Aufbau bäuerlicher Landwirtschaft und regionaler Märkte in Subsahara-Afrika helfen, so Schwaetzer. Martin Schulz sprach sich für ein europäisches Einwanderungsrecht aus. Europa sei ein Einwanderungs-kontinent. Nicht nur für politisch Verfolgte solle es seiner Meinung nach ein jährliches Zuwanderungskontingent geben, das nach Quoten und einheitlichen Standards auf die 28 Mitgliedsstaaten zu verteilen sei.

Idee mit Leuchtkraft

In der gut zweistündigen Veranstaltung warb EU-Parlamentspräsident Martin Schulz ganz grundsätzlich für die Idee der EU - heterogener Interessenausgleich, Überwindung von Grenzen. Diese Idee habe bis heute Leuchtkraft. Schulz fragte: "Ist aus dieser Idee die Verwaltung geworden? Ist die Verwaltung die Idee?" Die EU müsse verändert werden, so sein Fazit, Europa solle seine Werte verteidigen. Die Meinungsfreiheit. Das Folterverbot. Das Verbot von Kinderarbeit. Und: Europa dürfe den Glauben an Gerechtigkeit nicht verlieren. Ähnlich Präses Rekowski zum Akzeptanzproblem der EU: Europa sei immer ein randständiges Gebiet gewesen, die europäische Idee drohe zu verkümmern. Rekowski: "Wenn Europa bürokratisch daherkommt, hat es keine Bindungskraft." Gehe es dagegen darum, wirklich Frieden in Gerechtigkeit zu sichern, "dann hat Europa Bindungskraft". Und weil einfache Botschaften oft leichtes Spiel haben, weil Nationalismus wachse und Populismus auf dem rechten Rand das Wertesystem Europas zerstöre, rufe die evangelische Kirche auf, so Irmgard Schwaetzer: "Gehen Sie am 25. Mai zur Wahl!"

(Text & Fotos: Anna Neumann und Johannes de Kleine)