Dienst am Nächsten und ausgestreckter Arm in die Gemeinde

Themen des Protestantismus:
Folge 4 „Diakonie“ - Interview mit Malte Duisberg

Zum Reformationsjubiläumsjahr 2017 stellen wir an dieser Stelle regelmäßig Themen vor, die das evangelische Leben in unserer Region prägen. Für die vierte Folge mit dem Thema „Diakonie“ haben wir Malte Duisberg interviewt. Er ist Geschäftsführer des Evangelischen Alten- und Pflegeheims Gemünd mit 250 Mitarbeitenden.
Die Diakonie ist der soziale Dienst der evangelischen Kirchen in Deutschland. Das Wort stammt aus dem Altgriechischen, wo man unter „diakonia“ alle Aspekte des Dienstes am Nächsten versteht.

Herr Duisberg, wir sprechen anlässlich des Reformationsjubiläums über Ihr Arbeitsgebiet - war das Thema „diakonisches Handeln“ auch schon eins für Luther?

Duisberg: Ja, der Aspekt, dem Anderen zu dienen und ihm hilfreich zur Seite zu stehen, war auch schon für Luther wichtig. Und wenn man es einmal mutig sehr frei interpretiert, dann findet es sich auch in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, die in diesem Jahr besonders häufig zitiert wird: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Sich aus dem freien Willen heraus zu entscheiden, dem anderen dienen zu wollen und wo nötig, auch einmal den unbequemen Weg zu gehen, das ist für mich Diakonie. Gleichzeitig heißt dies für die Diakonie auch, freie Entscheidungsmöglichkeiten zu haben, welche Dienste sie anbieten möchte und wo sie Hilfebedarf sieht. Das rechtfertigt auch ein gesundes Selbstbewusstsein der Diakonie gegenüber Politik, Verwaltung und Geldgebern und lässt sie ein gleichberechtigter Mitspieler sein.

Welche Arbeitsschwerpunkte hat das Diakonische Werk im Kirchenkreis Aachen heute?

Duisberg: Man kann kein besonders wichtiges Arbeitsfeld herausgreifen, denn alle Angebote - von der Arbeit für Kinder, Senioren und Familien über Sozialberatung bis hin zur Arbeit mit Migranten oder der Bahnhofsmission - alle sind in diesem Moment jeweils besonders wichtig für die Betroffenen. Schwerpunkte kann man aber daran festmachen, wie unsere Gesellschaft sich entwickelt. Da ist zum Beispiel die Suchtberatung ein durchgängig wichtiges Thema, nur die Art der Süchte ändert oder erweitert sich. Die Schuldnerberatung wird nach unserer Beobachtung derzeit etwas weniger nachgefragt, wohl aufgrund von aktuell weniger ausgestellten Beratungsscheinen durch die Jobcenter. Schwer vorstellbar, dass der tatsächliche Bedarf gesunken ist. Die Diakonie schaut aber ständig darauf, wo die Bedarfe sind und reagiert darauf.

Wie viele Mitarbeitende hat das DW?

Duisberg: Das Diakonische Werk im Kirchenkreis Aachen hat derzeit rund 145 Mitarbeitende.

Gibt es in allen Gemeinden des Kirchenkreises diakonische Einrichtungen?

Duisberg: In allen Gemeinden des Kirchenkreises gibt es diakonische Arbeit, die sich auf drei verschiedenen Ebenen abspielt. Erstens das Diakonische Werk im Kirchenkreis Aachen mit seinen beiden Haupt-Standorten in Aachen und Alsdorf. Zweitens die vielen anderen diakonischen Einrichtungen selbständiger Träger, die sich in der Diakonie-Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen haben. Darunter sind nur als Beispiel für die Bandbreite der Arbeit das Luisenhospital in Aachen, die WABe, das Evangelische Kinderheim Brand und auch die Stiftung EvA in Gemünd. Drittens gibt es natürlich sehr viel diakonische Arbeit in den Kirchengemeinden, häufig geleistet von Ehrenamtlichen oder dort beschäftigten Mitarbeitenden, die sich zum Beispiel um Besuchsdienste, Lädchen für gebrauchte Gegenstände, Krabbelgruppen und vieles mehr kümmern.

Der evangelischen Diakonie entspricht auf katholischer Seite die Caritas. Was sind die Unterschiede? Gibt es heute noch welche?

Duisberg: Diakonie und Caritas haben den gleichen Auftrag, nämlich auf christlicher Basis den Menschen zu helfen. Beide verfügen über eine hohe Sach- und Fachkompetenz auf diesem Gebiet. In der Suchthilfe arbeiten wir gut und eng zusammen. In manchen Bereichen, die von den Kassen refinanziert werden, sind wir aber auch Mitbewerber. Das gilt im Besonderen für den Bereich der Pflege.

Es gibt auch andere soziale Einrichtungen, die nicht kirchlich getragen werden wie die AWO, pro familia oder das Deutsche Rote Kreuz: Macht sich für die Klienten der Einrichtungen ein Unterschied zur Diakonie bemerkbar?

Duisberg: Man kann für alle Wohlfahrtsverbände sagen, dass der Mensch mit seinen Problemen bei der Beratung und Unterstützung im Vordergrund steht. Wir alle wollen den Menschen, die sich an uns wenden, in ihren persönlichen Notlagen helfen. Uns unterscheidet eher die Ausgangsmotivation, nämlich das Diakonie und auch Caritas das aus dem christlichen Glauben heraus leisten. Im Umgang mit den Klienten macht sich dies meist nicht direkt bemerkbar. Ich erlebe die Beratung in unseren Einrichtungen ideologiefrei und wir fragen nicht danach, welcher Religion jemand angehört, der zu uns kommt. Aber wir können natürlich durch unsere Vernetzung mit den Kirchengemeinden auch viel Hilfestellung vor Ort vermitteln und auf eine breite Basis zurückgreifen, die uns trägt.

Wie erleben Sie es in Ihrer Arbeit: Schwindet in einer immer säkulärer werdenden Gesellschaft und bei sinkenden Mitgliedszahlen in den Kirchen auch die Tendenz von Menschen in Not, sich an die Diakonie zu wenden?

Duisberg: Nein, die Hinwendung zu den Einrichtungen der Diakonie bleibt ungebrochen. Wenn Menschen in Not sind, schauen sie in erster Linie danach, wer ihnen professionell und möglichst unbürokratisch helfen kann. Ich stelle fest, dass die Menschen dann oft sehr positiv wahrnehmen, dass ein kirchlich geprägter Träger dahintersteht. Das ist auch eine große Chance für unsere Kirche, sich und ihr Grundanliegen darzustellen.  Mir ist es auch wichtig, dass verfasste Kirche und Diakonie zusammengehören, und dass es da kein Nebeneinander oder gar Gegeneinander gibt, sondern nur ein Miteinander. Nur so können wir wirklich etwas bewirken. Die Diakonie ist für mich nach wie vor der ausgestreckte Arm der Kirche in die Gemeinde.

Wie sind Sie selbst zur Arbeit im Umfeld der Diakonie gekommen? Was reizt Sie daran?

Duisberg: Ich persönlich bin über den Zivildienst zur Arbeit in der Diakonie gekommen. Aus dieser Erfahrung heraus finde ich es schade, dass es den Zivildienst nicht mehr gibt, weil er gerade für viele junge Männer überhaupt die einzige Chance war, mit diakonischen Arbeitsfeldern in Kontakt zu kommen. Der Bundesfreiwilligendienst füllt das leider nicht aus. Ich selbst habe bei der Kirchengemeinde Hellenthal Jugend- und Altenarbeit gemacht, habe danach begonnen Evangelische Theologie zu studieren, mich dann aber für eine Ausbildung zum examinierten Altenpfleger entschieden und anschließend noch BWL studiert. Ich mag die Arbeit mit unterschiedlichen Menschen und täglich wechselnden Aufgaben und Situationen. Außerdem kann ich in diesem Aufgabenbereich viel gestalten und darf nicht nur, sondern muss auch kreativ sein – dass ist der Reiz. Ich gehe außerdem so viel wie möglich durchs Haus, um mit Bewohnern und Angehörigen direkt im Gespräch zu bleiben, und meine Tür steht immer offen, so dass Personal und Bewohner keine Scheu haben, sich an mich zu wenden.

Die Diakonie als Arbeitgeber gerät allerdings immer wieder in die Kritik: einerseits hinsichtlich von Loyalitätspflichten der Mitarbeitenden zu ihrem kirchlichen Arbeitgeber, andererseits bezüglich des „Dritten Weges“. Die besonderen arbeitsrechtlichen Bestimmungen für Mitarbeiter der Kirchen datieren zurück auf die Weimarer Reichsverfassung. Ist diese kirchliche Selbstbestimmung bei der Diakonie noch sinnvoll und zeitgemäß?

Duisberg: Grundsätzlich schätze ich den „Dritten Weg“, weil sein Grundgedanke ist, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich direkt einigen, ohne politische Einwirkung von außen. Dass Streik nicht möglich ist, ist ein Hinweis darauf, dass der Wille, die Bedingungen gemeinsam zu gestalten, im Vordergrund steht. Außerdem bezweifle ich, dass die Arbeitnehmer im Ergebnis davon profitieren würden, wenn man die Tarifgestaltung den Regeln des freien Tarifmarktes anheimgeben würde.
Was die Loyalität zum Arbeitgeber betrifft, spielt die Konfession der Angestellten in unserem Haus nicht mehr alleine eine Rolle. Die Führungsposition ist zwar mit einer evangelischen Person besetzt, aber ansonsten steht bei uns der Mitarbeitende mit seiner Person und Qualifikation im Vordergrund. Wir haben zum Beispiel auch Mitarbeiterinnen, die Muslime sind und auch bei der Arbeit ein Kopftuch tragen. Wichtig ist jedoch, dass alle Mitarbeitenden das Leitbild der Einrichtung mittragen, auch nach außen verkörpern und nicht gegen die dort zugrunde gelegte Ausrichtung argumentieren oder handeln. Damit bezieht sich die geforderte Loyalität heute mehr auf das gemeinsam zu erreichende Arbeitsergebnis, und davon können doch wohl nur die Hilfesuchenden profitieren, oder?

Wie sehen Sie die Zukunft der Diakonie? Gibt es Verschiebungen bei den Tätigkeitsschwerpunkten oder besondere Herausforderungen?

Duisberg: In unserem Land gilt immer noch das Subsidiaritätsprinzip: Wir übernehmen staatliche Aufgaben und müssen dafür auch entsprechend finanziell ausgestattet werden. Das scheint auf der Geldgeberseite manchmal in Vergessenheit zu geraten. In der Zukunft wird uns also das Ringen um die Finanzierung erhalten bleiben und auch nicht mehr besser werden. Wenn man auf die sozialen Verwerfungen in unserer Gesellschaft schaut, werden uns die Aufgaben im diakonischen Bereich  auch in Zukunft nicht ausgehen. Besonders die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, und Altersarmut wird verstärkt auftreten, denn viele heutige Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse werden später nicht mehr zu auskömmlichen Renten führen. Jeder diakonische Träger muss aber vor Ort schauen, wo für ihn die Aufgaben liegen, die anzugehen sind und für die er seinen regionalen Beitrag leisten kann.

Malte Duisberg ist seit 27 Jahren bei der Stiftung Evangelisches Alten- und Pflegeheim Gemünd tätig.  Im Jahr 2015 wurde ihm für seine langjährige Mitarbeit das „Goldene Kronenkreuz“ der Diakonie verliehen. Er ist auch Vorsitzender des Aufsichtsrats des Diakonischen Werks im Kirchenkreis Aachen, Mitglied des Kreissynodalvorstands des Kirchenkreises Aachen, Mitglied der Hauptversammlung des Diakonischen Werkes Rheinland-Westfalen-Lippe und war lange Jahre Presbyter der Evangelischen Trinitatis-Kirchengemeinde Schleidener Tal.